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Nachricht vom 18.01.2021
UniversitätWirtschaft und Gesellschaft

Vom Startup-Studium zum Trendsetter: Interview über zehn Jahre PPÖ mit Prof. Dirk Sauerland

Prof. Dr. Dirk Sauerland

Prof. Dr. Dirk Sauerland

Vom Startup-Studium zum Trendsetter: Interview über zehn Jahre PPÖ mit Prof. Dirk Sauerland

Zum Wintersemester 2010/11 begannen die ersten Studierenden ihr „Philosophie, Politik und Ökonomik“-Studium an der UW/H. Grund genug, einmal nachzufragen, wie sich der Studiengang entwickelt hat, was geblieben und was anders geworden ist, und wie relevant der interdisziplinäre Ansatz des Studiengangs heute noch ist. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Dirk Sauerland, der von Beginn an dabei war.

Vor zehn Jahren, also kurz nach der großen Finanzkrise, ist der PPÖ-Studiengang an der UW/H gestartet. Muss man die Gründung des ersten PPÖ-Studiengangs Deutschland vor dem Hintergrund der damaligen Krise begreifen? Und wenn ja: Wie aktuell ist der Ansatz dann heute noch?
Prof. Dirk Sauerland: Die Frage klingt ein bisschen nach: Funktioniert der Ansatz des Studiengangs nur in Krisen? Und da lautet die Antwort: Nein.
Um mehr Studierende auf die UW/H aufmerksam zu machen und zu begeistern, da waren mein damaliger Dekanskollege aus der Fakultät für Kulturreflexion Michael Bockemühl und ich uns einig, brauchten wir in unseren Fakultäten neue Studiengänge. So entstand der Gedanke, auf Elemente der bereits vorhandenen Studiengänge zurückzugreifen und diese neu zu kombinieren, um damit andere Schwerpunkte als nur Wirtschaft oder Kulturreflexion setzen zu können. Unsere Kollegen haben dann in einer fakultätsübergreifenden Arbeitsgruppe das Konzept des PPÖ entwickelt. So entstand das erste „PPÖ-Startup“ in Deutschland.

Für mich war die Entstehung des Studiengangs auch immer ein schönes Beispiel für Vorteile, die sich aus der Kooperation von Fakultäten realisieren lassen. Dass parallel dazu die Finanzkrise ablief, gab uns dann für die Werbung natürlich einen sehr guten Aufhänger. Damals wurden politische Maßnahmen ergriffen, um einen Teilbereich der Wirtschaft – nämlich das Finanzwesen – zu stabilisieren. Es stellten sich auch Fragen nach Moral und Ethik der Akteure im Finanzwesen, sodass wir einen sehr aktuellen ersten Anwendungsfall für die drei Perspektiven des PPÖ hatten.

Schaut man nun auf die aktuelle COVID-19-Pandemie, sind die Perspektiven noch deutlicher: Wieder spielen politische Akteure eine wichtige Rolle, die neue Regeln für die Wirtschaft setzen, um das Überleben von Arbeitsplätzen und Unternehmen zu gewährleisten. Ethische Fragen stellen sich insbesondere bei den Eingriffen in die individuellen Freiheitsrechte zur Bekämpfung der Pandemie ebenso wie bei der Frage der Reihenfolge, in der der absehbar vorhandene Impfstoff dann verteilt werden soll.

Aber der PPÖ-Ansatz braucht keine Krise, um aktuell zu sein. Auch die deutlich weniger dramatischen Fragen der Abschaffung des Solidaritätszuschlags, einer möglichen Neuordnung des deutschen Föderalismus oder des Umgangs mit dem Brexit erfordern mehr als Fachkenntnisse aus einer Disziplin um Ursachen und Wirkungen verstehen zu – und entsprechend darauf reagieren zu können.

Der PPÖ-Studiengang hat insbesondere in angelsächsischen Ländern eine lange Tradition. Viele Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger, auch mehrere britische Premierminister, haben ihn studiert. Sie haben die Idee nach Deutschland transportiert. Konnten sie dabei einen Großteil des Konzeptes übernehmen? Was musste an die deutschen Verhältnisse angepasst werden?
Prof. Dirk Sauerland: Im ursprünglichen angelsächsischen Modell studiert man Philosophie, Politik und Ökonomik nebeneinander. Das Modell ist auf eine breit angelegte generalistische Ausbildung mit philosophischer Bildungskomponente ausgerichtet. Unser Konzept war von Anfang an anders. Die theoretische Klammer des Wittener PPÖ besteht in der Idee der Relevanz von Institutionen. Dies sind die Spielregeln für Politik und Wirtschaft. Diese Spielregeln dienen dazu, dass die Akteure in Politik und Wirtschaft sich so verhalten, dass ein gesellschaftlich erwünschtes Ergebnis entsteht. Und diese Regeln und die relevanten Akteure muss man kennen und verstehen, damit man Lösungen für gesellschaftliche Probleme entwickeln kann. Das klingt erst einmal abstrakt. Wenn Sie sich aber vorstellen, dass in Deutschland am 1. Januar 2021 eine neue CO2-Abgabe eingeführt wird, dann ist diese neue Regel, die von der Politik gesetzt wird, u.a. dazu gedacht, das Verhalten der Autofahrerinnen und Autofahrer so zu beeinflussen, dass die CO2-Emissionen reduziert und die Umwelt geschont wird. Und die politische Aktivität in dem Bereich ist sicherlich auch auf die öffentliche Diskussion zurückzuführen, die von organisierten Gruppen wir Fridays for Future mit vorangetrieben wird. Um solche Dinge analysieren zu können, muss man wissen, wer die Regelsetzer sind, wer die Regelsetzer beeinflussen kann und wie unterschiedliche Regeln sich auf das Verhalten auswirken.

Das ist also eigentlich keine Anpassung an deutsche Verhältnisse, sondern an eine institutionenorientierte Sichtweise. Wir arbeiten also quasi mit drei fachlichen Brillen, die aber einen gemeinsamen Fokus haben.

Können Sie sich erinnern, was die Grundüberlegungen bei der Einführung des Studiengangs waren? Wie entstand die Idee, diesen Studiengang erstmalig auch in Deutschland anzubieten? Wie war der Prozess und wie lange hat es gedauert, bis er etabliert war und dann auch von staatlichen Universitäten kopiert wurde?
Prof. Dirk Sauerland: Die Entwicklung des neuen Studiengangs ging relativ schnell; das war sicherlich auch den speziellen Entstehensbedingungen geschuldet. Nachdem das Konzept stand, haben wir es zur Akkreditierung eingereicht und konnten dann nach erfolgreicher Akkreditierung im Herbst 2010 mit insgesamt zehn Studien-Anfängerinnen und -Anfängern starten. Mittlerweile kommen wir – nach Stand im Sommersemester 2020 – auf 188 Studierende und annähernd 150 Absolventinnen und Absolventen.

2010 war das wirklich wie ein Startup-Unternehmen, denn zu Beginn lief nicht alles so rund, wie wir es gern gehabt hätten. Aber die Dinge, die zu Beginn hakten, haben sich in der Interaktion mit unseren Studierenden relativ schnell verbessern lassen. Nachdem dann unser PPÖ Bachelor-Startup gut funktioniert hat, haben wir den nächsten Schritt gemacht und den PPE-Masterstudiengang an den Start gebracht. Bis die PPÖ-Idee von anderen übernommen wurde, hat es eine Weile gedauert. Dass ähnliche Studiengänge nun auch von anderen Hochschulen angeboten werden zeigt uns aber, dass unsere Idee nach wie vor gut ist. Inzwischen gibt es ja auch im Ausland PPÖ-Bachelorprogramme, und es war schön, bei einem Besuch an der Universität Amsterdam zu erfahren, dass die Kolleginnen und Kollegen in ihrem Akkreditierungsantrag unseren PPÖ-Bachelor als Referenzmodell für solche Programme in Kontinentaleuropa angeführt haben.

Wagen wir einen Ausblick! Wird die Entwicklung hin zum fächerüberschreitenden Lernen, wie sie der PPÖ-Studiengang abbildet, weitergehen? Oder werden wir das Rad zurückdrehen und uns wieder mehr in Richtung klarer Spezialisierungen bewegen? Und wie wird sich der Studiengang selbst in den kommenden zehn Jahren ihrer Meinung nach entwickeln?
Prof. Dirk Sauerland: Die Tendenz zu einer stärkeren Interdisziplinarität von Studiengängen ist meines Erachtens klar zu sehen – insbesondere im Bereich der Bachelorstudiengänge. Das macht aus meiner Sicht auch viel Sinn, denn im Anschluss an einen breit aufgestellten Bachelor können die Absolventinnen und Absolventen sich dann zum Beispiel in einem Masterstudiengang spezialisieren. Das ist auch ein Trend, den wir bei unseren Absolventinnen und Absolventen sehen. Daher haben wir den PPÖ-Bachelor auch so konzipiert, dass ein Übergang in einen fachspezifischen Master in Politik, Wirtschaft oder Philosophie inhaltlich problemlos möglich ist.

Und wenn nach dem Bachelor der Einstieg in den Beruf erfolgt, sind die Absolventinnen und Absolventen mit ihren fachlichen und überfachlichen Kompetenzen gut aufgestellt, um sich in einer schnell veränderten Arbeitswelt gut zurechtzufinden.

Unseren PPÖ-Studiengang werden wir systematisch weiterentwickeln, indem wir beispielsweise die interdisziplinären Module stärker machen und die Methodenkompetenzen auch mit Blick auf Datenanalyse verbessern, um so die Problemlösungskompetenz unserer Studierenden weiter zu verbessern. Dazu werden wir auch Leitmotive für einzelne Semester mit unseren Studierenden abstimmen, die dann in verschiedenen Modulen auch im Co-Teaching von Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen bearbeitet werden.

Was den englischsprachigen PPE-Master betrifft ist die Zielgruppe anders. Zum einen adressieren wir hier internationale Studierende, zum anderen auch solche, die bereits einen fachspezifischen, engen Bachelorstudiengang absolviert haben und sich nun aber die Frage stellen, was man mit so viel Spezialisierung anfangen kann, wenn man sich für gesellschaftlich relevante Fragestellung interessiert.

Wir sehen im Department Philosophie, Politik und Ökonomik als nächsten Entwicklungsschritt des PPÖ/PPE-Ansatzes die Etablierung interdisziplinärer Forschung. Anders als die interdisziplinären Lehrprogramme ist Forschung oft noch sehr spezialisiert; das wollen wir versuchen zu ändern und hoffen, dass wir auch dabei wieder Trendsetter sein werden.

Studieninteressierte können sich noch bis zum 28. Februar für PPÖ bewerben.

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