Beitrag aus der Kategorie E&O forscht

Was tun bei Atemnot? Eine Studie zu Einflussfaktoren auf die Entscheidungsfindung von Pflegenden

Was tun bei Atemnot? Eine Studie zu Einflussfaktoren auf die Entscheidungsfindung von Pflegenden

Beruflich Pflegende haben in ihrer alltäglichen Praxis selten Zeit, inne zu halten und ihre Entscheidungen und Handlungen zu reflektieren. Zugleich übernehmen sie große Verantwortung. Sie treffen zwar keine Therapieentscheidungen und tragen nicht die Letztverantwortung für medizinische Maßnahmen. Sie sind jedoch maßgeblich am Erfolg oder Misserfolg dieser Therapien beteiligt, da sie diese begleiten und wichtige Veränderungen des Zustandes der Patientinnen und Patienten beobachten und kommunizieren.

Studien zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen Anzahl sowie Qualifikation des pflegerischen Personals und der Mortalitätsrate der Patientinnen und Patienten gibt (u. a. Aiken 2014). Zudem begleiten Pflegende Menschen in einer Situation, in der diese oftmals verunsichert und verletzlich sind (Williams 2004). In dieser Phase unterstützen professionell Pflegende die Betroffenen und deren Angehörige. Die Entscheidungen, die Pflegende in der Begleitung von Patientinnen und Patienten treffen, sind also mit Blick auf verschiedene erwünschte Ergebnisse (z. B. Patientenoutcomes, Wohlbefinden und Lebensqualität) relevant, auch wenn sie nicht unmittelbar die medizinische Therapie betreffen oder klinischer Natur sind.

Entscheidungen professionell Pflegender beziehen sich einerseits auf die korrekte Durchführung bestimmter Maßnahmen, d. h. auf das Wissen und die Fertigkeiten der jeweiligen Pflegenden. Andererseits beziehen sie sich auf die Beziehungsgestaltung mit den Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen. Pflegende müssen somit auch bereit und offen dafür sein, in Interaktion zu treten.

Die Frage, die sich in diesem Kontext stellt ist, in wie weit, unabhängig von persönlichem Engagement und Verantwortungsbewusstsein, ein reflektierter Umgang mit der beschriebenen Verantwortung im Alltag möglich gemacht oder sogar unterstützt werden könnte. Wie entscheiden Pflegende, ob sie handeln und wenn ja, was sie tun? Diese Frage bezieht sich klar auf einzelne pflegerische Tätigkeiten, vor allem jedoch auf die grundsätzliche Orientierung zu und innerhalb der Patienten-Pflegenden-Interaktion, die im Rahmen von Entscheidungen gestaltet wird. Diese Interaktion wiederum ist nicht losgelöst von den Bedingungen, unter denen sie gestaltet wird (Wettreck 2001, van Schayck 2000). Um pflegerische Entscheidungsfindung und deren Bedingungen zu erforschen bedarf es somit einerseits einer theoretisch fundierten Perspektive. Die Komplexität und Diversität der pflegerischen Versorgung erfordert andererseits jedoch auch eine Fokussierung auf einen eingegrenzten Themenkomplex.

So konzentrierte sich die von uns durchgeführte Studie auf Einflussfaktoren auf die Entscheidungsfindung zum Einsatz pflegerischer Maßnahmen bei Patientinnen und Patienten mit schwerer Atemnot. Ziel war es, anhand der stattfindenden Interaktion, d. h. anhand des Entscheidungshandelns der beteiligten Akteure, die Wechselwirkungen zwischen konkreter Patientenversorgung und Organisationsstrukturen aufzuzeigen.

Die Ergebnisse zeigen, dass professionell Pflegende situationsangemessene Maßnahmen identifizieren und je nach Wirksamkeit und Reaktion der Patientinnen und Patienten anpassen. Es kann hierbei zwischen pharmakologischen und nichtpharmakologischen Interventionen, wie auch pflegerischen Maßnahmen unterschieden werden. Daneben zeigen sich vielfältige Einflussfaktoren auf die pflegerischen Entscheidungen innerhalb der Interaktion, die nicht in der Atemnotsituation oder der Vulnerabilität der Betroffenen selbst begründet sind. Umgebungs- und Kontextfaktoren haben somit einen starken Einfluss auf diese zunächst gut abgrenzbare klinische Situation. Das führt auch dazu, dass Wissen und Fähigkeiten der professionell Pflegenden kein Garant für eine patientenorientierte, symptomangemessene Versorgung sind. Im Alltag treten permanent verschiedene Handlungsstränge und Ansprüche parallel auf, denen die Pflegenden gerecht werden sollen, es aber nicht können. Als zentrale Herausforderung der Berufsgruppe erscheint in einigen Einrichtungen nicht die pflegerische Versorgung der Patientinnen und Patienten, sondern deren „Durchschleusen“ durch den Behandlungsprozess. Die Übernahme organisatorischer, haushaltsnaher und medizinisch-therapeutischer Aufgaben bei gleichzeitiger Personalreduktion verhindert zusätzlich patientennahe, pflegerische Handlungen. Daraus ergibt sich, dass die eigentlich zentrale Perspektive der Patientenzentrierung, dem Durchsetzen der oftmals ökonomisch geprägten Organisationsziele nachgeordnet wird, bzw. dass sie – organisatorisch gewollt, oder durch implizite Rationalisierung hervorgerufen – untergraben wird. In Bezug auf das klinische Symptom Atemnot und eine adäquate Reaktion darauf lässt sich beobachten:

  • Atemnotsituationen sind als akut bedrohliche Situationen nicht nur durch die starke Unsicherheit der belasteten Patientinnen und Patienten gekennzeichnet. Sie treten auch in einem Klima möglicher Unsicherheit für die Pflegenden auf. Diese Unsicherheit verhindert eine adäquate Versorgung der atemnötigen Patientinnen und Patienten, da viele Maßnahmen vor allem mit einer beruhigenden Durchführung verbunden sind.
  • Atemnot wird, wie auch andere relevante Symptome, aufgrund der gleichzeitig verlaufenden Aufgaben und gestellten Anforderungen oftmals zu spät oder gar nicht wahrgenommen.
  • Vor der Entscheidung zu Maßnahmen – d. h. zu den zu nutzenden Mitteln – steht oftmals die (unbewusste) Entscheidung, sich überhaupt in die Interaktion zu begeben – also eine Entscheidung über das Ziel. Als bewusste Prioritätensetzung erfordert diese Entscheidung ein hohes Maß an Kompetenz und Freiheitsgraden. Eine unbewusste oder permanent als konflikthaft erlebte Entscheidung führt zu hohen Belastungen der professionell Pflegenden und einer schlechteren Versorgungsqualität.

Die Gestaltung der Versorgung von (besonders vulnerablen) Patientinnen und Patienten muss erstens den Spagat zwischen normativer Anforderung sowie professionellem Selbstverständnis (z.B. Patientenzentrierung) und den aktuellen Bedingungen wie auch Institutionslogiken schaffen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind beeinflusst von den herrschenden Organisationsstrukturen. Organisationen lenken also die Wahrnehmung ihrer Mitglieder und sozialisieren diese – nicht nur in systemrelevanten Entscheidungen, sondern auch in den gut abgrenzbaren patientennahen Alltagshandlungen. Dieser Umstand muss reflektiert und entsprechende Reaktionen ermöglicht werden, mit dem Ziel eine patientenzentrierte Versorgung zu gewährleisten. Die Studienergebnisse zeigen zudem, dass es einen Bedarf an Studien zur Wirksamkeit verschiedener nicht-pharmakologischer Maßnahmen gibt, die regelhaft von Pflegenden durchgeführt werden. Neben den ambulanten und oftmals langfristig angelegten komplexen Interventionen (Atemnotkliniken, Selbstmanagement), müssen auch Interventionen und Maßnahmen in den Blick genommen werden, die in akuten Situationen zur kurzfristigen Symptomlinderung angewendet werden können.

 

Kontakt:

Christine Dunger

Christine.Dunger@uni-wh.de

Beitrag vom 27.10.2020

Die Universität Witten/Herdecke ist durch das NRW-Wissenschaftsministerium staatlich anerkannt und wird – sowohl als Institution wie auch für ihre einzelnen Studiengänge – regelmäßig akkreditiert durch: