Grenzen

©Ann-Christin Abbenhaus

E&O denkt

Am Anfang steht der Gedanke…
‚E&O denkt‘ greift Gedanken auf, die sich in den unterschiedlichsten Projekten, Seminaren oder Gesprächen entwickelt haben. Da Gedanken zumeist die Eigenschaft haben, recht flüchtig zu sein, sollen sie hier eine Plattform bekommen. Manche Gedanken kommen uns so wichtig vor, dass wir sie mit einer breiteren Öffentlichkeit teilen möchten. Im Gespräch können sie vergehen, sich wandeln oder reifen - zu Meinungen, Forschungsprojekten und Initiativen.

Denken Sie mit und teilen Sie ihre Gedanken mit uns: eo-blog@uni-wh.de

  

E&O denkt - Unsere aktuellen Themen

 

Ein Verständnis der Philosophie

 

 

 

„Philosophie beginnt mit dem Staunen. Und am Ende – dann, wenn das philosophische Denken sein Bestes getan hat – bleibt das Staunen.“

(Alfred North Whitehead: Denkweisen, 198)

 

Dass die Philosophie mit dem Staunen beginnt, sahen schon Platon und Aristoteles so. Die Verwunderung darüber, warum die Dinge so sind und warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, setzt das Denken allererst in Bewegung. Was aber soll es heißen, dass am Ende ebenso das Staunen steht? Man muss wohl einsehen, dass die Philosophie nie eine endgültige Antwort auf die Fragen geben können wird, die uns qua unseres Menschseins doch nicht aufhören zu plagen. Vom anfänglichen Staunen ob der blühenden, summenden Welt, in der wir uns befinden (wie es William James einst ausdrückte), wird also immer etwas übrig bleiben.

Und so erklärt die Philosophie eigentlich nichts, wenn man darunter versteht, ein Phänomen auf einfache Grundprinzipien zurückzuführen und zu reduzieren. Vielmehr wird nicht reduziert, sondern vermehrt. Denn wir können doch nicht aufhören, mit den Versuchen Antworten zu geben oder vielleicht auch nur die Fragen anders zu formulieren. Ein zugleich beängstigender und tröstlicher Gedanke.
Und doch, das Staunen nach getaner philosophischer Arbeit ist ein anderes. Das philosophische Denken transformiert unseren Blick, verändert unsere Erfahrungsweisen und unsere Art zu leben. Philosophisch beschreibend wird das Phänomen umkreist, die summende Welt als solche ernstgenommen und dem Summen werden neue Tonarten hinzugefügt. Die Gedankengebäude der Philosophie sind nicht zuletzt Teile dieser blühenden Welt.

Lukas Nehlsen

 

 

Frauen und Männer in Führung

Verortet im Diskurs zwischen Gleichberechtigung, Frauenquote, Emanzipation, Feminismus und Diversity finden sich zurzeit auch einige Studierende und Lehrende des Studiengangs Ethik & Organisation wieder. Gesellschaftlich hoch aktuell und viel diskutiert, weshalb sich vor allem auch die folgenden Fragen stellen: Wie kann dieser Diskurs konstruktiv geführt werden, ohne selbst an Ambiguität zu scheitern? Aus welchen Perspektiven heraus lässt sich das Thema produktiv entfalten?

“Ambiguity Failures“ und “Glasceiling-Effekt“ – Mehrdeutigkeit vs.  Geschlechteridentität

In seinem Buch „Wozu Soziologie?“ entwickelt Dirk Baecker eine kurze soziologische Analyse des „Glasceiling-Effektes“. In den entscheidenden Momenten, so Baecker, scheinen Männer als auch Frauen Mehrdeutigkeiten in Bezug auf Personen nicht aufrechtzuerhalten und stattdessen auf eindeutige Geschlechterrollen zuzurechnen – besonders dann, wenn Frauen dabei sind, Spitzenpositionen in Organisationen zu übernehmen, bei denen kein Mann mehr eine höhere Position besetzt. Die Übernahme von Identitätsrollen beschreibt Baecker dabei nicht als „Determinanten der sozialen Situationen“ (Baecker 2004, 245), sondern in Anlehnung an Eric M. Leifer als “ambiguity failures“, also als das Scheitern „den anderen nicht festzulegen, das heißt so mehrdeutig (inklusive zweideutig) miteinander umzugehen wie irgend möglich.“ (Baecker 2004, 245). Durch “ambiguity failures“, so Baecker, „ist die Kommunikation nur noch damit beschäftigt, zustimmend oder abweisend die Folgen der daraus resultierenden Rollenerwartungen, Identitätsansprüche und Handlungszuweisungen zu bedienen.“ (Baecker 2004, 246). Ist die Zurechnung auf eindeutige Rollen also einmal vollzogen, werden diese ständig durch Zustimmung oder Abweisung reproduziert und die Interaktion operiert in Folge dessen fortwährend an der Unterscheidung Mann/Frau. Das, was Baecker stattdessen als idealtypisch betrachtet, ist eine Frau/Mann-Interaktion die kontextunabhängig ist und „die Interaktionsteilnehmer durchgängig in der Lage sind, sich als Männer und Frauen wahrzunehmen und dennoch nicht als Männer und Frauen zu behandeln.“ (Baecker 2004, 247).

Besonders interessant erscheint hier, dass laut Baecker nicht in erster Linie Männer an Mehrdeutigkeit scheitern, sondern im gleichen Maße auch Frauen: „Man bewältigt eine Karriere, ohne die Tatsache zu akzentuieren, also folgenreich werden zu lassen, daß man eine Frau ist – und im letzten Moment akzentuiert man, also frau, genau dieses.“ (Baecker 2004, 253). Interessanterweise hat sich in dem Lehrforschungsprojekt „Frauen in Führung“, dass von Studierenden des Studiengangs Ethik & Organisation durchgeführt wurde, gezeigt, dass Frauen in Führungspositionen eben nicht auf das “Frau-Sein“ reduziert werden möchten und die eindeutige Geschlechterrolle zugunsten von Mehrdeutigkeiten versuchen zu resymmetrisieren:

„Und ich […] finde es nämlich so wichtig, dass man merkt auch in diesen Netzwerken, dass man als Frau da voll akzeptiert ist und eben da überhaupt keine Unterscheide gemacht werden. Und deshalb bin ich kein Freund von Frauennetzwerken, weil dann bewegt man sich immer so in so einem Dunstkreis und hört vielleicht immer die schlechten Erfahrungen, die der eine oder andere macht. Und ich würde mich da gar nicht groß mit beschäftigen, sondern selbstverständlich sich in der ganz normalen Welt bewegen, das halte ich für wichtig.“ (FiF: I3: 50)

Dies zeigt sich unter anderem auch darin, dass die befragten Frauen eben nicht (nur) den Wunsch nach mehr Frauennetzwerken haben, sonders sich stattdessen gemischte Netzwerke für den beruflichen Austausch wünschen. Haben die Frauen, die schon in Führungspositionen sind, verstanden, dass sie ihre Rolle als „Frau“ und ihre Rolle als Führungskraft nicht zu stark auf die Eindeutigkeit „Frauen in Führung“ reduzieren sollten – oder würden auch sie entsprechend in Hinblick auf Baecker’s These in Hinblick auf die Chance einer Spitzenposition ebenfalls zu zweifeln beginnen, ob das als „Frau“ möglich sei?

Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, wie wir den Diskurs über die messbaren Ungerechtigkeiten zwischen Männern und Frauen und auch zwischen Frauen und Männern führen, ohne selbst auf Eindeutigkeiten und Geschlechteridentitäten zuzurechnen und damit die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Zurechnungen auf „den Mann“ und „die Frau“ zu erhöhen und stattdessen in einen Diskurs einzutreten, der in der Lage ist, Mehrdeutigkeit in allen Rollen (also nicht nur in Führungspositionen) zuzulassen? Wir stellen hier also die Frage, wie heutzutage mit von Simone de Beauvoir aufgeworfenen Befund umzugehen ist, dass die Frau sowohl in der Falle ist, wenn sie sich entscheidet, Frau zu sein, als auch wenn sie die geschlechtlichen Spezifika ihrer Identität negiert.

Hannah Cramer

Literatur:

Dirk Baecker (2004): Wozu Soziologie?. Berlin: Kadmos-Verlag.

 

 

 

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Klimawandel: Zwischen politischer Ökonomie und politischer Ökologie

Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, eigentlich wissen wir es schon längst: Die schlimmsten Szenarien der im Jahr 1980 vom damaligen US-Präsidenten in Auftrag gegeben Studie „Global 2000“ treten ein. Die Folgen des menschengemachten Klimawandels werden in immer mehr Ländern sichtbar. Der Verschmutzung der Meere durch Plastik ist immer noch kein Einhalt geboten worden. Die Monokulturen in der Landwirtschaft führen zu einem Artensterben, das weitere ökologische Zusammenhänge bedroht – man denke an das Bienensterben aber auch die Ausbreitung neuer Schädlinge. Sei es aufgrund von Klimawandel, Hunger, Krieg oder aus einer Kombination der drei Faktoren – weltweit nehmen die Ströme der Flüchtlinge zu, die auf der Erde ein neues Zuhause suchen.

Trotz einiger Versuche, hier auf politischer Ebene zu weltweit koordinierten Lösungen zu finden (man denke etwa an die UN-Klimakonferenzen), steht die Politik – einschließlich der außerparlamentarischen Bewegungen – recht hilflos diesen gravierenden Prozessen gegenüber. In bestimmten Nischen konnte zwar einiges erreicht werden, doch die politisch-ökonomischen Zusammenhänge, welche die benannten Probleme hervorbringen, sind damit nicht einmal ansatzweise angegangen. Auf politischer Seite wird das Spektrum möglicher Handlungsalternativen derzeit primär durch die Globalisierung (und deren Kritik) oder die Rückkehr zum Nationalen (sowie der Abwehr der hiermit einhergehenden unappetitlichen Folgen) aufgespannt.

In diese zunächst nahezu hoffnungslos wirkende Lage interveniert Bruno Latour mit seinem terrestrischen Manifest. Sein Ausgangspunkt ist dabei zunächst eine ebenso offene wie schonungslose Bestandsaufnahme der gegenwärtigen politischen Ökologie:

Es ist „vielleicht an der Zeit, nicht mehr von Menschen, Humanwesen zu sprechen, sondern von Terrestrischen, von Erdverbundenen (earthbound), um damit den Humus, letztlich den Kompost herauszustreichen, der in der Etymologie von »human« steckt. […] Den Spuren der Erdverbundenen folgen heißt, die Konflikte um die Deutung dessen, was diese oder jene Wirkkraft ist, will oder kann, auch darauf auszudehnen, was andere Wirkkräfte sind, wollen oder können – und das betrifft die Arbeiter ebenso wie die Vögel im Himmel, die Populären und Erfolgreichen wie die Bakterien im Boden, die Wälder ebenso wie die Tiere.“ (Latour, 101f.)

Bruno Latour (2018): Das terrestrische Manifest. Suhrkamp Verlag Berlin, 136 Seiten

 

Dazu ausführlich: Werner Vogd's Kommentar zum terrestrischen Manifest von Bruno Latour

 

 

 

Latour fordert uns auf, das vielfältige und polyzentrische Gewebe der Kausalitäten nachzuzeichnen, welche unsere politische Ökologie ausmachen. Doch genau diese Verbindungen und Fäden sind mit der Globalisierung zunehmend unsichtbar geworden und entsprechend nicht mehr nachvollziehbar. Hierin besteht das eigentliche Problem der Globalisierung.

Werner Vogd

   

Corona: Zwischen Virtualität und Präsenz

Die Kritik an modernen Kommunikationsformen in virtuellen Welten, wie sie 2011 von Sherry Turkle vorgestellt wurde, wird in Anbetracht der gegenwärtigen Krise des Physischen in ihr Gegenteil gewendet. Turkles Buchtitel „Alone together“ beklagt zwar trefflich das Trennende, das durch moderne Telekommunikation in die Gesellschaft Einzug gehalten habe. Doch wie auch die soziale Distanzierung durch die bundesdeutsche Kanzlerin neu gerahmt wurde (die solidarische Trennung), lässt sich heute plötzlich nur mehr im Alleinsein das Soziale pflegen. Während die digitale Surferin, der Twitterer oder die Computerspielerinnengruppe vor wenigen Wochen noch als vereinsamte Opfer der Digitalisierung galten, stehen sie plötzlich für die solidarische Speerspitze des Mitgefühls. Die Flucht ins Virtuelle rettet das Reale, sozusagen.

Welche Freiheiten, welches Potential und welche Möglichkeiten bieten die sogenannten virtuellen Realitäten (VR) eigentlich? Was macht die VR-Technologien so besonders?

 

 

 

 

 

 

Was macht die Magie virtueller Realitäten aus?

 

 

 

 

 

Was ergeben sich für Chancen aus der VR-Technologie?

Die Technologien virtueller Realität zielen sowohl von ihrem strukturellen Funktionsprinzip als auch ihrer haptischen Interaktionsweise auf die Verwischung der Grenze von Virtuellem und Realem. Selbst die aktuelle Generation von VR ermöglicht es, sich im Virtuellen einem Modus anzunähern, der von Martin Heidegger in Sein und Zeit ausführlich beschrieben wurde: dem Modus des „In-der-Welt-Seins“. Ohne Präsenz, ohne die Wahrnehmung eines In-der-Welt-Seins wäre VR nichts anderes als ein weiteres Bildschirmmedium, von dem man sich leicht distanzieren könnte. Das randlose Medium von VR verhindert aber genau dies. Insbesondere in der Nutzung von VR wird damit deutlich, dass jede Wahrnehmung immer nur momentan, unmittelbar und kompakt ist. Die Wahrnehmung von Präsenz findet ausschließlich im Präsens statt. Oder wie Maurice Merleau-Ponty betont: Zu einer Wahrnehmung lässt sich nur schwerlich nein sagen.

Jonathan Harth

 

VR ermöglicht es der Benutzerin oder dem Benutzer das Gefühl zu geben, in der virtuellen Umgebung körperlich präsent zu sein - aber eben auch die Präsenz der zwischenmenschlicher Nähe. Die Neurowissenschaften lehren uns seit längerem, dass unsere Sinnesorganisation gar nicht die „echte“ Wirklichkeit vermitteln können, sondern nur nützliche, überlebenstaugliche Fiktionen erzeugen. Die gegenseitige Wahrnehmung von Präsenz ist aus dieser Perspektive immer schon fiktionale oder virtuelle Simulation gewesen – eine Gehirn-interne Simulation vermeintlicher Ausdrucksformen und Intentionen anderer.

Jonathan Harth

 

Die digitalen Welten des Virtuellen sind in diesem Sinne kein Antagonismus zur gewöhnlichen Wirklichkeit, sondern fungieren vielmehr als homologe Alternative. Virtuelle Realität macht reale Realität unterscheidbar. Sie zeigt deren Begrenztheiten und Un-Möglichkeiten auf und zieht damit eine neue Beobachterperspektive auf Welt und Wirklichkeit ein, die von nun an zur Verfügung steht. Das Handeln und Erleben in virtuellen Welten ist also nicht mit einem Realitätsverlust verbunden, wie man zunächst vermuten könnte, sondern vielmehr mit einem Realitätsgewinn. VR eröffnet der Gesellschaft neue Beobachtungsmöglichkeiten und mehr (reflexive) Freiheitsgrade. Und genau diese Freiheitsgrade erscheinen in der gegenwärtigen Zeit des selbstauferlegten Freiheitsentzugs nochmals wertvoller. 

Jonathan Harth

 

   

 

Zur Zeit bewegen uns folgende Zitate:

»Unweigerlich spürt man ein Schaudern, insofern man die mit den Fragen einer impliziten Ethik verbundenen Zumutungen zu verstehen beginnt. Sich der Frage des inneren Dämons zu stellen, impliziert, in „Welten ohne Grund“ zu landen, die, insofern sie in die Lage kommen, diesen Prozess zu reflektieren, begreifen müssen, dass ihre Wertreferenzen in nichts gegründet sind. Als Zwillingsschwester der impliziten Ethik erscheint damit unweigerlich das des Nihilismus.« 

Werner Vogd (Studiengangsleiter)

 

»Der Witz der Bewertung ist nicht der, zu bestimmen, ob sie angemessen ist, wobei das, was angemessen ist, durch die Form der Bewertung selbst gegeben ist; der Witz ist vielmehr zu bestimmen, welche Position du einnimmst, d. h., für welche Position du die Verantwortung übernimmst – und ob ich diese achten kann. [...] Soweit wir haben sehen können, steht in solchen Beispielen nicht die Gültigkeit der Moral als Ganzes auf dem Prüfstand, sondern das Wesen oder die Qualität unserer Beziehung zueinander.« 

Stanley Cavell (2016)

 

»Wenn ein Thema jedoch höchst umstritten ist - und das ist jede Frage, bei der es um die Geschlechter geht -, kann man nicht hoffen, die Wahrheit zu sagen. Man kann lediglich zeigen, wie man zu seiner Meinung gekommen ist, welche es auch immer sein mag. Man kann seiner Zuhörerschaft nur die Möglichkeit geben, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen, wenn sie die Grenzen, die Vorurteile und Eigenarten der Vortragenden bemerken.«

Virgina Woolf (1929)

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