„Studierende der ersten Generation“, „Arbeiterkind“ oder „Bildungspionierin“. Wie auch immer man mich nennen möchte, ich bin die Erste aus meiner Familie mit Abitur und auch die Erste, die studiert.
Als ich mein Abiturzeugnis erhielt, war ich sehr glücklich, aber irgendwie nicht mutig genug, ein Studium zu beginnen. Studieren, wie läuft das überhaupt? Wie lange dauert sowas und kann ich das überhaupt bezahlen? Schaffe ich das – ohne Vorbilder, ohne sozialen Rückhalt und ohne Rücklagen auf dem Konto? Und seien wir mal ehrlich, die Berufsberatung in der Schule war, jedenfalls bei mir, nicht wirklich wegweisend. Der Sprung ins Ungewisse war damals für mich also zu groß. Bereits mit 16 begann ich, nebenbei in der Gastronomie zu arbeiten. So kam eins zum anderen und ich machte eine Ausbildung in einem Hotel in Düsseldorf. Die Ausbildung machte mir Spaß, jedoch merkte ich schnell, dass ich eigentlich was ganz anderes machen wollte. Konkret gesagt: Ich wollte meinem Leben einen Sinn geben und nicht nur dafür sorgen, dass der Champagner die richtige Temperatur hat.
Nachdem ich meine Berufsausbildung abgeschlossen hatte, entschied ich mich, auf meine innere Stimme zu hören und einfach mal was ganz anderes auszuprobieren. Hals über Kopf zog ich nach Zürich und machte ein Praktikum in einer Montessori Schule. Hier bekam ich die Gelegenheit, im Bereich der Schulpsychologie Erfahrungen zu sammeln. Hautnah erlebte ich mit, wie sich das Verhalten und die Leistungen von Kindern mithilfe psychologischer Verfahren verbesserten. So rückte die Psychologie immer mehr in den Vordergrund. Noch während des Praktikums erfuhr ich über eine Mitfahrgelegenheit von der Universität Witten/Herdecke: Tim aus Herdecke, angehender Facharzt, berichtete mir mit funkelnden Augen von einer Uni, die sozialverträglich ist und bei der die Persönlichkeit im Vordergrund steht – nicht die Abi-Note. Klang ziemlich gut, aber im ersten Moment auch ein wenig unrealistisch. Zum Glück kann man sich beim CAMPUStag, dem Tag der offenen Tür an der UW/H, selbst ein Bild machen. Diese Chance nutzte ich und war sofort begeistert: diese Atmosphäre, der grüne Campus und die Offenheit der Menschen. Von dem Zeitpunkt an war mir klar, dass ich studieren wollte – und zwar Psychologie in Witten!
Die drei Grundwerte „zur Freiheit ermutigen“, „nach Wahrheit streben“ und „soziale Verantwortung fördern“ bilden den Identitätskern der Uni und machten mir Mut, diesen Weg zu gehen. Die Ängste, die ich nach dem Abi hatte, konnte mir die UW/H nehmen. Man fühlt sich hier einfach nicht allein, alles ist sehr persönlich und ich hatte das Gefühl, dass mein nicht-akademischer Hintergrund keine Rolle spielt. Ein Gefühl, das ich schlecht in Worte fassen kann und dennoch viele meiner Kommilitonen ähnlich erlebten. Man steht in der Uni und denkt: „Genau das ist es!“
Finanziell klappt es auch: Mein Studium finanziere ich mit dem Umgekehrten Generationenvertrag (UGV) – also durch nachgelagerte Studiengebühren, die ich erst zahle, wenn ich im Job bin, gemessen an meinem Einkommen.
Das Psychologiestudium in Witten ist total praxisnah. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, die klinische Psychologie auf eine dynamische und anschauliche Weise kennenzulernen. Im Bachelor haben wir ein ganzes Semester Zeit praktische Erfahrungen zu sammeln. Dadurch konnte ich ein Auslandspraktikum in der Forschung am Universitätsspital Zürich absolvieren. Hier begleitete ich eine Studie in der Grundlagenforschung zur Emotionserkennung, bei der wir den Zusammenhang zwischen emotionaler Expressivität im eigenen Gesicht, Gesichtsemotionserkennung und Gesichtsemotionserkennbarkeit untersuchten. Meine Bachelorarbeit habe ich schließlich über ein Experiment der Studie verfasst. Nach dem Praktikum war für mich klar, dass ich nach meinem Studium wissenschaftlich arbeiten möchte.
Dadurch, dass wir nur 36 Studierende pro Jahrgang sind, haben wir sehr kleine Seminargruppen. So können wir durch den intensiven Austausch neue Sichtweise und Perspektiven kennenlernen und vom Wissen anderer profitieren. Anspruchsvolle Fächer wie Neuropsychologie oder Statistik waren für mich in dieser Lernumgebung überhaupt kein Problem. Man ist an der UW/H eben nicht nur eine Matrikelnummer, sondern sogar häufig per Du mit den Professorinnen und Professoren. Und weil ich diese fördernde Lernatmosphäre nicht gegen einen riesigen, anonymen Hörsaal eintauschen wollte, entschied ich mich, auch noch den Master „Psychologie mit Schwerpunkt klinische Psychologie und Psychotherapie (M.Sc.)“ hier zu studieren.
Mittlerweile bin ich im dritten Master-Semester angekommen und kann rückblickend sagen, dass ich es keinen Tag bereue, mutig gewesen zu sein, denn: Genau hier gehöre ich hin.
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