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Die Pflicht zu lieben?

Die Pflicht zu lieben?

Philine Drevermann, Jolinde Hüchtker und Joshua Stahl begegnen Camus Antwort auf das Absurde different vor einem geteilten Lebenshorizont. Denn Mensch sein, heißt dem Absurden, welches aus dem Vermögen, die eigene Determiniertheit reflektieren und immanent brauchen zu müssen, entsteht, ausgesetzt zu sein. Camus Antwort auf die Sinnfrage geht uns also alle an, obgleich sie auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint: Nämlich „die Pflicht zu Lieben“.

Essay: Philine Drevermann

Essay: Jolinde Huechtker

Essay: Joshua Stahl

 

Wenn ich hier eine Morallehre schreiben müsste, würde das Buch hundert Seiten umfassen, und davon wären 99 leer. Auf die letzte würde ich schreiben: ‚Ich kenne nur eine einzige Pflicht, das ist die Pflicht, zu lieben.‘ Und zu allem übrigen sage ich nein." (Tagebucheintrag, Camus, 1972)

Diesen Tagebuchauszug von Albert Camus greifen Philine Drevermann, Jolinde Hüchtker und Joshua Stahl auf um, sich dem nicht leicht zugänglichen Werk „Der Mensch in der Revolte“ (Camus, 1982) zu stellen. Mensch sein, heißt hier, dem Absurden ausgesetzt zu sein. „Dann stürzen die Kulissen ein. Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das ‚Warum‘ da, und mit diesem erstaunten Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an.[...] Der nächste Schritt ist die unbewusste Umkehr in die Kette oder das endgültige Erwachen“. (Camus 1982, S.13) Wenn es um Camus geht, dann geht es immer auch um die Auseinandersetzung mit dem Sinnlosen und der hiermit einhergehenden Weichenstellung zum Nihilismus. Es geht um die Antwort auf das Absurde. Das Absurde als sinnlose Finalität produziert – zunächst kontraintuitiv – als Antwort die Revolte und die Liebe.

Was führt Menschen in die Revolte und wogegen wird revoltiert? Das Absurde produziert die Akteure von Revolutionen, geeint in einem kollektiven Nein. Leicht entsteht daraus das Problem, sich für eine Idee zu entscheiden, welche das Leid Einzelner mit dem Ideal der Zukunft rechtfertigt. Opfere dich jetzt, kämpfe jetzt, dann wird die Zukunft gut sein. In Camus Essays flieht der russische Revolutionär und Nihilist Netschajew in geeinter, gepeinigter Verzweiflung vor den Wunden seiner Zeit und kämpft kompromisslos, in einer lieblosen Revolution vergehend, gegen sich selbst und die anderen. Die multiplen Traumata der Akteure reproduzieren Kaskaden der Gewalt. Aufgehend in den imaginären der Revolution wird das Schicksal einer Unzahl von Individuen Ideen unterworfen, die das Töten legitimieren und Traumata reproduzieren. Die Gewalt des Zarenreichs wird abgelöst durch die „vernünftig“ legitimierte Gewalt der Revolutionäre. Das Explizite in Camus Revolte ist das Nein als Grenze gegenüber sozialer Ungerechtigkeit und das Ja als die Entscheidung an den Wert des menschlichen Lebens zu glauben.

Wie Herr Stahl in seinem Essay aufzeigt, begegnet Camus dem aus der Verneinung entstehenden Vakuum wie folgt: „[...] die Revolte muss „stillschweigend einen Wert [anrufen]“ [...] Die Revolte muss bei Camus immer beide Momente enthalten, in der Spannung verharren, sie verliert sich, sie verfehlt sich immer dann, wenn sie nur noch Nein sagt [...] oder nur noch Ja.“ (Stahl, S. 3) Seine Antwort ist die Revolte gegen das Unmenschliche. Er postuliert die Revolte gegen das Sinnlose als „die Pflicht zu lieben“. Kurz gefasst: Unser Menschsein konfrontiert einen mit Sinnlosigkeit und der Möglichkeit sich gegen diese und für die Liebe zu entscheiden. Die liebenden Revolutionäre entfliehen also der nihilistischen Einsamkeit geeint durch einen impliziten Wert. Doch was ist dieser Wert? Ist es der Wert? Sprich, ist Camus Antwort auf das Sinnlose die Ethik? Eine implizite Ethik macht es unmöglich zu sagen was exakt Ethik ist. Leichter fällt zu sagen: Die Reproduktion von anders legitimierter Gewalt ist es nicht.

Frau Drevermanns Essay expliziert die Gefahr des Absoluten eines transzendentalen Liebesbegriffs. Sie schreibt in ihrem Essay: „Liebe selbst, damit sie der Philosophie Albert Camus entspricht, muss sich immer in einem Kampf befinden, darf niemals ins Absolute verfallen oder ihr Maß überschreiten. Die Frage bleibt jedoch offen, wie eine maßvolle Liebe aussieht.“ (Drevermann, S. 6).

Damit stellt sich uns vor dem Hintergrund einer praktischen Ethik die Frage: Wie lässt sich dieses vage Konstrukt „maßvoller Liebe“ auf die Lebensweltliche Praxis übertragen? Beziehungsformen geben einen Rahmen vor und determinieren die gelebte Praxis. Es kann in einem Ehevertrag festgehalten oder durch polygames Regelwerk aufgebrochen und individuell begrenzt oder geöffnet werden. Polygamie räumt konzeptuell mehr Kontingenz ein und fordert die Liebenden in anderer Form als das klassisch explizierte Liebeskonstrukt der Moderne. Die Ehe: Der katholische, von kantischer Moral affizierte Liebesbegriff begrenzt durch das Recht und unterwarf die (Vertrags) Partner*innen lange der systematischen Gewalt einer Justiz der Ungleichheit in Form patriarchal determinierter Rechtsprechung. Ungleichheit ergibt sich aus deutscher Rechtsgeschichte, in welcher erst 1997 die Vergewaltigung in der Ehe justiziabel wird. Passend dazu bezweifelt Frau Hüchtker in ihrem Essay die Gewaltfreiheit in der Liebe und hinterfragt Camus Verständnis eines spontanen und offenen Liebeskonstrukts von Freunden, Komplizen und Liebenden vor dem Hintergrund einer Romantisierung leidenschaftlicher Gewalt: „Deutlich ist, dass es Camus vor allem darum geht, das Verbrechen „aus Vernunft“ zu verurteilen, was sich in seine generelle Abneigung gegenüber Ideologien und überhöhten Prinzipien einfügt. Wirft man jedoch einen Blick auf die Gegenwart, wird deutlich, dass der sogenannte „Mord aus Liebe“ keinesfalls einen „[Einbruch] in die Ordnung“ darstellt, sondern Teil dieser ist: An jedem dritten Tag gelingt es einem Mann, seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten – und das nur in Deutschland.“ (Hüchtker, S. 10)

Wenn Liebe aber ein spontanes Anerkennen des Einzelnen in individueller Menschlichkeit ist, ergibt sich Liebe aus Momenten und kann nicht festgehalten geschweige denn expliziert werden. Dasselbe gilt für die affektive Qualität von Liebe. Ein Gefühl, das in Momenten entsteht, für die Zukunft abzusichern, instrumentalisiert die eigene Psyche und führt uns zurück in Camus Paradox, sich zum Lieben zu verpflichten. Eine Beziehung, die darauf gründet, die eigene Einsamkeit symbiotisch zu substituieren, ist wie das totale Ja der lieblosen Revolution, denn die Anerkennung der gegenseitigen Andersartigkeit weicht einer Co-Abhängigkeit, in welcher bedingte Autonomie zur existenziellen Angst wieder allein zu sein pervertiert. Statt sich zu begegnen sind die „Verschmolzenen“ Opfer interindividueller Projektionen der Bedürftigkeit. 

Im notwendig offenen Framework impliziter Ethik verbleibend, kann nicht expliziert werden, was maßvolle Liebe ist.

Kontakt:

Philine.Drevermann@uni-wh.de

Joshua.Stahl@uni-wh.de

Jolinde.Hüchtker@uni-wh.de

 

Verfasser:

Marlon Lüning 

Marlon.Luening@uni-wh.de

Arbeitet am Lehrstuhl für Soziologie und studiert Klinische Psychologie (M.Sc) und Ethik & Organisation (M.A). 

 

 

 

 

Beitrag vom 05.06.2021

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