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Konflikte als Tor zu anderen Welten

Konflikte als Tor zu anderen Welten

Hannah Cramer geht in ihrer Masterarbeit von der These aus, dass „unser alltägliches Konfliktverständnis“ und der damit einhergehende Umgang mit Konflikten durch das abendländische Denken geprägt ist. Als Gegenhorizont wird eine kybernetische Perspektive in Bezug auf das Phänomen „Konflikt“ aufgebaut und so gezeigt, wie die Struktur unseres Denkens unsere Beschreibungen und unser Handeln prägt (und umgekehrt) und wie ein Einlassen auf Konflikte und deren Lösung Polykontexturalität erfahrbar macht.

Wie erkennen wir die Welt? Die Perspektiven des abendländischen und kybernetischen Denkens und der Konflikt als Möglichkeitpolykontexturaler Erfahrung.

Streit, Auseinandersetzung und Konflikt begleiten uns durch unser eigenes Leben, ebenso wie durch die Menschheitsgeschichte - von der griechischen Mythologie bis zur christlichen Weltsicht und zahlreichen gesellschaftlichen Umbrüchen durch Vertreibungen oder Kriege. Konflikte zeigen sich innerpsychisch („Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“) ebenso wie sozial und leiblich („Der Kampf mit dem Krebs“). In den Momenten, in denen wir selbst in Konflikte verwickelt sind, ist es häufig schwierig zu erkennen, in welchen Dynamiken und aus welchen Gründen wir uns gemeinsam verstrickt haben, wobei das Gemeinsame ohnehin weniger sichtbar ist als das Getrennte.

Unser Denken und Handeln ist in der Regel durchzogen von Komplexitätsreduktionen auf linear-kausale Zusammenhänge – also auf die klare Zurechenbarkeit von Ursache und Wirkung. Sich anhand dieser Reduktion in der Welt zu orientieren, ist auch gekoppelt an die Vorstellung von Subjekt und Objekt, die, so könnte man sagen, im abendländischen Denken als „Ur-Unterscheidung“ angenommen wird und auf derer sich alle weiteren Erkenntnisprozesse aufbauen. Darin zeigt sich laut Gotthard Günther “die klassische Dualitätstheorie des Absoluten“ (Günther 1963, 25), an der er unter anderem Folgendes als bemerkenswert erachtet: „[D]iese Weltanschauung [impliziert], daß die beiden metaphysischen Wurzeln des Seins in ihrem exklusiven Gegensatzverhältnis jederzeit genau identifizierbar sein müssen. Mit anderen Worten: es gibt nur einen einzigen, absolut eindeutigen, logischen Schnitt zwischen Sein und Denken, zwischen Ich und Welt, zwischen Reflexion und Gegenstand der Reflexion“ (Günther 1963, 25). Diese Dualität wird von den klassischen Axiomen der Logik – wir unterliegen einer zweiwertigen Logik – reproduziert beziehungsweise bedingt. Diese radikale Dichotomie, die unser streng in sich geschlossenes System des Denkens (vgl. Günther 1963, 26) bestimmt, spaltet uns selbst und unsere Welt ebenso radikal zweiwertig: in positiv oder negativ, wahr oder falsch, gut oder böse, Subjekt oder Objekt, Tod oder Leben, Ursache oder Wirkung, Schuld oder Unschuld.

Entsprechend äußerst sich gemeinhin auch unser alltäglicher Umgang mit Konflikten. Die Kontextfaktoren und die historische Zuspitzung des Konflikts (also beispielsweise die Frage nach: Wer hat angefangen?) und deren Rekonstruktion werden als wesentlich betrachtet, um den Verursacher und damit den eindeutig identifizierbaren Schuldigen zu finden. Solange wir in dieser von Günther beschriebenen metaphysischen Trennung operieren, „haben wir das alte Problem. Der Beobachter erster Ordnung müßte sich jetzt auf die Suche nach der wirklichen wirklichen, echt authentischen Ursache machen. Das kann im Notfall eine Hexe oder ein Dämon sein. Aber so etwas wird gebraucht.“ (Fuchs 2001, 81). In der radikalen Dichotomie, auf der auch Rationalität beruht, operieren wir in Extremen und sind scheinbar bereit, auch “irrationale“ Narrationen – wie QAnon, Pizzagate, etc. verdeutlichen. – in Kauf zu nehmen, um die Rationalität der Zweiwertigkeit aufrecht zu erhalten. Deren alltagsüblich entsprechende Zuschreibungen für den Konfliktpartner beziehungsweise den Konfliktgegner äußern sich heutzutage dann eher in den Ausdrücken “dumm“, “krank“ und/oder “böse“ (vgl. Omer, Alon und von Schlippe 2016). Somit kann auch die Zweiwertigkeit erhalten bleiben, die eher für eindeutige Lösungen plädiert: Ist der andere “böse“, so bin ich “gut“.

Beschreiben wir das Phänomen „Konflikt“ stattdessen anhand kybernetischer Erkenntnistheorie, scheitert das Auffinden “des Verursachers“ oder „des Schuldigen“ schon daran, dass ein Beobachter 2. Ordnung, also ein Beobachter des Beobachters fragen könnte: Wer hat wen beobachtet – also aus welcher Beobachterperspektive wird jemand als „schuldig“ beschrieben? Diese Form des Fragens und Beschreibens verschiebt den Blick vom „Was?“ auf das „Wie?“. Es geht dann darum, wie wir, jeder Einzelne und wir gemeinsam als “soziale Wesenheit“ die Welt beziehungsweise den Konflikt erkennen.  Damit ist der Weg eröffnet, nach dem Prozess zu fragen, also nach der Interaktion der Konfliktparteien. Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt wird durch das Hinzufügen eines „Dritten“ – nämlich des Prozesses (vgl. Günther 1963), der Subjekt und Objekt verbindet – verwandelt. Eine klare Zurechnung von Ursache und Wirkung ist nicht mehr möglich, Wirkung kann auch Ursache und Objekt kann auch Subjekt sein. Hieraus ergibt sich, dass das Finden eines Verursachers, weder möglich noch notwendig ist. Diese Kontingenz eröffnet die Möglichkeit auszuwählen:

Wir können uns weiterhin in Teufelskreise verstricken und uns in Negationen von Negationen (also in den Verneinungen der gegenseitigen Positionen) verlieren. Oder wir können uns, wie Heinz von Foerster vorschlägt, dazu entscheiden, den Teufelskreis in einen kreativen Kreislauf zu verwandeln, der Wahlmöglichkeiten sichtbar werden lässt. Dadurch wird aber auch die Überzeugung der Notwendigkeit von Vergeltung kontingent gesetzt und wir müssen uns von der Überzeugung verabschieden, uns als privilegierten Beobachter der Welt zu begreifen, in der wir göttergleich zu erforschen vermögen, wer schuldig ist und wer nicht. Stattdessen geht es darum, sich als Teil der Welt zu begreifen, als Teil des Prozesses, als Mitgestalter der Welt. Teil der Welt zu sein bedeutet zu erkennen, nur einen begrenzten Zugang zu “Wahrheit“ zu haben und nichtsdestotrotz oder gerade deshalb mitverantwortlich zu sein und eben dadurch TEILzunehmen und gleichzeitig das Gegenüber auch Teil der Welt sein zu lassen und zwar mit seinem Verständnis der Welt (vgl. von Foerster 2019).

Für Auseinandersetzungen bedeutet diese Entscheidung, Verantwortung zu tragen für den Konflikt, aber eben auch für dessen Lösung(en). Können wir uns hierauf einlassen, gewinnen wir eine Flexibilität in der Sicht auf uns und die Welt und erhalten dadurch die Chance, einen Zugang oder zumindest eine Annäherung an die Welt des Anderen zu erlangen. Denn besonders in den Momenten, in denen verborgen bleibt, warum sich der Andere so „stur“, „eigensinnig“ oder „niederträchtig“ verhält, zeigt sich eigentlich eine andere Welt, eine andere Logik, eine andere Kontextur, und somit ein kleines Tor zur Welt des Anderen, in der das „Sture“ möglicherweise „Treue“ bedeutet, „Eigensinnigkeit“ auch „Selbstfürsorge“ ausdrücken kann oder sich „Niedertracht“ als „Unsicherheit“ entpuppt. Gelingt es, wenn auch immer nur als Annährung, sich auf diese andere Welt, diese andere Logik, diese andere Kontextur, diesen anderen Bezug zur Welt und zum Selbst, einzulassen, können wir für einen kurzen Moment erfahren, in wie vielen (möglichen) Welten wir leben können, wie polyvalent diese Welt in Erscheinung treten kann, wie wir uns fortwährend in polykontexturalen Strukturen bewegen.

Sich auf dieses Spiel einzulassen, bleibt allerdings nicht ganz ohne Risiko: es bedeutet, die eigene privilegierte Sicht auf die Welt aufzugeben und dadurch ein Stück weit, die eigene Welt und damit die scheinbar eigene Identität aufzugeben. Den Preis, den wir zahlen, ist der Verlust von Sicherheit der eigenen Welt – der Gewinn, den wir erhalten, ist der Zugang zu einer anderen Welt und damit auch das Erkennen der Möglichkeit vieler anderer möglicher Welten.
 

Kontakt:

Hannah Cramer

Hannah.Cramer@uni-wh.de

 

Literatur:

Foerster, Heinz (2019): Tanz mit der Welt. Fraktale einer Ethik. Heidelberg: Carl Auer.

Fuchs, Peter (2001): Das Weltbildhaus und die Siebensachen der Moderne. Sozialphilosophische Vorlesungen. Konstanz: UVK Verlag.

Günther, Gotthard (1963): Das Bewusstsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik. Baden-Baden und Krefeld: Agis-Verlag.

Omer, Haim, Nahi Alon, und Arist von Schlippe (2016): Feindbilder. Psychologie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Beitrag vom 28.10.2020

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