Beitrag aus der Kategorie E&O denkt

Menschen mögen Lügen, die Erde hört nicht auf sie

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Bruno Latour

Menschen mögen Lügen, die Erde hört nicht auf sie

Kommentar zum terrestrischen Manifest von Bruno Latour

Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, eigentlich wissen wir es schon längst: Die schlimmsten Szenarien der im Jahr 1980 vom damaligen US-Präsidenten in Auftrag gegeben Studie „Global 2000“ treten ein. Die Folgen des menschengemachten Klimawandels werden in immer mehr Ländern sichtbar. Der Verschmutzung der Meere durch Plastik ist immer noch kein Einhalt geboten worden. Die Monokulturen in der Landwirtschaft führen zu einem Artensterben, das weitere ökologische Zusammenhänge bedroht – man denke an das Bienensterben aber auch die Ausbreitung neuer Schädlinge. Sei es aufgrund von Klimawandel, Hunger, Krieg oder aus einer Kombination der drei Faktoren – weltweit nehmen die Ströme der Flüchtlinge zu, die auf der Erde ein neues Zuhause suchen.

Trotz einiger Versuche, hier auf politischer Ebene zu weltweit koordinierten Lösungen zu finden (man denke etwa an die UN-Klimakonferenzen), steht die Politik – einschließlich der außerparlamentarischen Bewegungen – recht hilflos diesen gravierenden Prozessen gegenüber. In bestimmten Nischen konnte zwar einiges erreicht werden, doch die politisch-ökonomischen Zusammenhänge, welche die benannten Probleme hervorbringen, sind damit nicht einmal ansatzweise angegangen. Auf politischer Seite wird das Spektrum möglicher Handlungsalternativen derzeit primär durch die Globalisierung (und deren Kritik) oder die Rückkehr zum Nationalen (sowie der Abwehr der hiermit einhergehenden unappetitlichen Folgen) aufgespannt.

In diese zunächst nahezu hoffnungslos wirkende Lage interveniert Bruno Latour mit seinem terrestrischen Manifest. Sein Ausgangspunkt ist dabei zunächst eine ebenso offene wie schonungslose Bestandsaufnahme der gegenwärtigen politischen Ökologie:

„Man versteht nichts von den seit fünfzig Jahren vertretenen Positionen, wenn man die Klimafrage und deren Leugnung nicht ins Zentrum rückt. Ohne den Gedanken, dass wir in ein Neues Klimaregime eingetreten sind, kann man weder die Explosion der Ungleichheiten, das Ausmaß der Deregulierungen, die Kritik an der Globalisierung noch, vor allem, das panische Verlangen nach einer Rückkehr zu den früheren Schutzmaßnahmen des Nationalstaates – was, sehr zu Unrecht, als »Aufstieg Populismus« bezeichnet wird – verstehen.“ (10)

Das Versprechen der Moderne, dass alle Menschen an den Errungenschaften der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben können, erweist sich dabei nicht nur als Illusion, sondern als eine ideologische Verklärung, die von seinen Verkündern schon lange nicht mehr geglaubt wird:

„Alles spricht dafür, dass ein gewichtiger Teil der führenden Klassen (heute recht vage als »Eliten« bezeichnet) zu dem Schluss gelangte, dass für ihn und den Rest der Menschen nicht mehr genügend Platz vorhanden sei. // Folgerichtig entscheid man, dass es nutzlos sei, vorzugeben, die Geschichte strebe weiter auf einen gemeinsamen Horizont zu. […] Seit den achtziger Jahren geht es den führenden Klassen nicht länger darum, die Welt zu führen, vielmehr suchen sie außerhalb dieser Welt Schutz. Die Folgen dieser Flucht, die in Donald Trump nur eines unter vielen Symbolen hat, haben wir zu tragen – wir, die wir angesichts einer fehlenden miteinander zu teilenden gemeinsamen Welt nahezu den Verstand verlieren.“ (9f.)

Die Politik, als die Bewegung kollektiven und gemeinschaftlichen Handelns steckt entsprechend derzeitig in der Falle. Entweder neigt sie dazu, das immer weniger überzeugende Projekt einer entfesselten Globalisierung zu verfolgen oder aber sie beginnt, sich mit nationalen Parolen auf lokale Bezüge zurückzuwenden. Beide Varianten haben (noch) eine gewisse ideelle Strahlkraft. Doch bei genauerem Hinsehen erweisen sich die mit ihnen verbundenen Visionen als leere Versprechen, die nicht mehr in eine Praxis überführt werden können, welche die Reproduktion von Wohlstand, Glück und Zufriedenheit erwarten lässt:

„Selbst heute noch erstrahlt das GLOBALE, macht frei, löst Begeisterung aus, lässt wegschauen, emanzipiert es und vermittelt es den Eindruck ewiger Jugend. Nur existiert es nicht. Sicherheit, Ruhe, eine Identität gibt dagegen das LOKALE. Aber auch das existiert nicht.“ (106)

Als real erscheinen demgegenüber die vielfältigen Netzwerke, über die wir als Menschen mit der Erde verbunden sind. Dies schließt, so an James Lovelock anknüpfend, auch Bakterien, Pflanzen, Tiere und nicht zuletzt die Atmosphäre unseres Planeten ein. Dabei darf Lovelocks Gaia-Hypothese jedoch nicht in einer Weise missverstanden werden, als dass die Erde ein Superorganismus sei, der einen eigenen Willen habe. Er weist vielmehr darauf hin, dass wir unsere Lebensbedingungen komplexen Kausalketten zu verdanken haben. Diese die beinhalten neben den sozialen Praktiken eben auch Chemikalien, Mikroorganismen, Pflanzen, Ozeane, Seen, Maschinen, Fabriken etc.  (Latour spricht hier im Sinne seiner symmetrischen Anthropologie auch von Nicht-menschlichen-Akteuren):

Lovelock hat aufgehört zu „leugnen, dass die Lebewesen an der Gesamtheit der bio- und geochemischen Phänomene aktiv teilhaben. Sein reduktionistisches Argument ist das genaue Gegenteil von Vitalismus. Er lehnt lediglich ab, den Planeten durch die Eliminierung der meisten Akteure, die längs einer Kausalkette intervenieren, leblos werden zu lassen. Nicht mehr und nicht weniger.“ (90)

Für Latour beruht unser derzeitiges Dilemma darin, in unserer politischen Epistemologie zwischen einer Minusversion des GLOBALEN (noch mehr rücksichtloser Handel, noch mehr soziale Ungleichheit) und einer ebenso defizitären Version des LOKALEN (einer von Kooperation und Austausch isolierten Rückbesinnung auf vermeintliche ethnische Identitäten) gefangen zu sein. Doch diese beiden Wege der menschlichen Reproduktion (globaler Markt vs. abgeschottete lokale Produktion) werden im Zeitalter des Klimawandels nicht mehr funktionieren. Gaia hat eine Eigenlogik, entsprechend der sich die Kausalketten, welche unsere menschliche Reproduktion gefährden, weder durch die derzeitigen globalen Institutionen managen, noch durch Zäune bannen lassen:

„Zurzeit sehen sie, von den sogenannten »populistischen« Parteien stramm bearbeitet und aufgewiegelt nur die eine Dimension der ökologischen Mutation: dass sie Menschen über ihre Grenzen treibt, die sie nicht wollen. Also denken sie sich: »Machen wir die Grenzen dicht, damit entgehen wir der Invasion!«

Die andere Dimension dieser Veränderung haben sie noch so deutlich zu spüren bekommen: Das Neue Klimaregime fegt seit Langem schon über alle Grenzen hinweg und setzt uns allen Stürmen aus. Und gegen diese Invasoren sind unsere Mauern machtlos.

Wenn wir unsere Zugehörigkeiten und Identitäten verteidigen wollen, müssen wir auch diese form- und staatenlosen Migranten identifizieren, die da heißen: Klima, Bodenerosion, Habitatzerstörung. Selbst wenn ihr die Grenzen vor den zweibeinigen Flüchtlingen dicht macht, die anderen werdet ihr nicht aufhalten können.“ (19)

Gaia, Biosphäre, welche unseren Planeten umgibt, hält sich nicht an menschengemachte Grenzanalagen. Die meisten derzeitigen Versuche, dem Problem Herr zu werden, müssen deshalb im Symbolischen stecken bleiben. Sie beruhen nicht auf einer politischen Ökologie, welche eine befriedende Reproduktion menschlichen Lebens gestattet. Selbstredend stellen die Lösungsversuche von Trump und der ihn unterstützenden perfiden Eliten keinen Ausweg dar, denn sie zielen auf einen Ort, der außerhalb unsere Erde liegt. Latour spricht in diesem Zusammenhang von dem neuen Attraktor des AUSSERERDIGEN. Trump (der Populäre unter den Klimaleugnern) und seinen vielen Nachahmern (den „Bonsai-Trumps“, um mit Andrea Nahles zu sprechen) mag es vielleicht gelingen, für eine gewisse Zeit Ressourcen zugunsten der eigenen Klasse zu horten. Doch auch für ihre Anhänger wird es in naher Zukunft ein Aufwachen geben müssen:

„Trumps Hintermänner haben beschlossen, Amerika noch ein paar Jahre träumen zu lassen, um die Landung und Erdung zu verhindern und die übrigen Länder mit in den Abgrund zu reißen, womöglich für immer.“

Jenseits des trügerischen Traums von einer anderen Welt bleibt auf der diesseitigen Seite nur der TERRESTISCHE übrig. Latour bezeichnet mit diesem Wort im Sinne der Gaia-Hypothese all die Zusammenhänge, welche die Reproduktion von uns Menschen als biologische Formen ermöglichen. Der Perspektivenwechsel, der hier notwendig ist, dezentriert unweigerlich auch das Bild von uns selbst. Es gilt mit der Illusion zu brechen, dass der Mensch über der Natur steht oder sie gar beherrschen kann:

Es ist „vielleicht an der Zeit, nicht mehr von Menschen, Humanwesen zu sprechen, sondern von Terrestrischen, von Erdverbundenen (earthbound), um damit den Humus, letztlich den Kompost herauszustreichen, der in der Etymologie von »human« steckt. […] Den Spuren der Erdverbundenen folgen heißt, die Konflikte um die Deutung dessen, was diese oder jene Wirkkraft ist, will oder kann, auch darauf auszudehnen, was andere Wirkkräfte sind, wollen oder können – und das betrifft die Arbeiter ebenso wie die Vögel im Himmel, die Populären und Erfolgreichen wie die Bakterien im Boden, die Wälder ebenso wie die Tiere.“ (101f.)

Latour fordert uns auf, das vielfältige und polyzentrische Gewebe der Kausalitäten nachzuzeichnen, welche unsere politische Ökologie ausmachen. Doch genau diese Verbindungen und Fäden sind mit der Globalisierung zunehmend unsichtbar geworden und entsprechend nicht mehr nachvollziehbar. Hierin besteht das eigentliche Problem der Globalisierung. Die ihr zugrundeliegende politische Ökonomie verschleiert die Beziehungen, auf denen sie beruht:

„Doch welches Lebewesen ist imstande, das, wovon es abhängt, auch nur einigermaßen genau zu beschreiben? Die Minus-Globalisierung hat dies gleichsam unmöglich gemacht – und das war auch ihr primäres Ziel: den Protesten dadurch den Wind aus den Segeln zu nehmen, dass verunmöglicht wurde, weiter den Produktionssystemen zu folgen.“ (109)

Unter den geschilderten Bedingungen wieder politisch und ökologisch handeln zu können, bedeutet vor allem, zu lernen, die Fäden wieder wahrzunehmen und nachzuzeichnen. Nichts erscheint für Latour entsprechend verfehlter, als vorschneller politischer Aktionismus. Denn dieser würde nur in einem alten Symbolismus verbleiben, der die Verhältnisse schon längst nicht mehr trifft:

„Wir könnten zwar kühne Thesen propagieren und für respektable Werte eintreten, aber unsere politischen Affekte liefen ins Leere.“ (109)

Doch Latour lässt uns nicht ganz ohne Hoffnung zurück. Zum einen wird uns die Erde nolens volens zeigen, dass wir von der Erde ebenso beherrscht werden, wie wir sie zu beherrschen versuchen. Zum anderen kann die Abkehr vom GLOBALEN und LOKALEN zu einem Perspektivenwechsel führen, unser Augenmerk und unsere Kräfte darauf lenken, wie wir unsere „Erde nach der Modernisierung“ bewohnen können (und zwar mit all „jenen, die die Modernisierung endgültig von ihrem Mutterboden vertrieben hat.“ (122)

Dies würde aber vor allem vorrausetzen, so das wichtige Resümee Latours, unsere politischen Affekte neu auszurichten.

Diesbezügliche Suchbewegungen mögen zwar auf den ersten Blick provinziell wirken, doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die bisherigen hochkulturellen Narrative des Politischen (Moderne, Nationalismus, Sozialismus, Liberalismus, Konservatismus etc.) nicht dazu in der Lage sind, den Widerspruch von politischer Ökonomie und politischer Ökologie aufzuheben.

Doch ob wir es als (ein)gebildete Menschen mögen oder nicht: Gaia spielt mit.

 

Kontakt:

Werner Vogd

werner.vogd@uni-wh.de

 

Literatur:

Bruno Latour (2018): Das terrestrische Manifest. Suhrkamp Verlag Berlin, 136 Seiten

 

 

 

Beitrag vom 28.10.2020

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