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Aus implizit wird explizit? Folgen der Digitalisierung für Professionen am Beispiel der Ärzte

Aus implizit wird explizit? Folgen der Digitalisierung für Professionen am Beispiel der Ärzte

Was passiert, wenn die vielfältigen Aspekte aus unserem (Arbeits-)Leben, die normalerweise implizit bleiben, durch die Digitalisierung plötzlich explizit werden? Macht dies die Welt besser oder geht umgekehrt etwas Wichtiges verloren – etwa die Fähigkeit im sensiblen miteinander Abtasten im Angesicht zu Angesicht herauszufinden, was geht und einander zumutbar ist? Was macht dies mit professionellen Akteuren, die genau in diesem Zwischenbereich mit ihren Klienten arbeiten? Dies sind die Fragen, die Maximilian Locher mit Blick bislang kaum belichtete ethische Konsequenzen stellt.

Locher, M., 2017, Aus implizit wird explizit - Folgend der Digitalisierung für Professionen am Beispiel der Ärzte.

Vielen Untersuchungen der Digitalisierung gelingt es nicht, ein tieferes Verständnis des sozialen Kontexts des von ihnen untersuchten Aspekts der Digitalisierung zu entwickeln – wodurch ethische Konsequenzen aus dem Blick geraten. Die Studie „Aus implizit wird explizit?“ untersucht die Folgen der Digitalisierung auf die ärztliche Profession. Sie überwindet das Manko der Praxisvergessenheit, indem sie die konkrete Erfahrungsräume des professionellen Handelns in den Blick und erst auf dieser Grundlage die Folgen unterschiedlicher Digitalisierungsformen untersucht.

Dabei werden vier besonders relevante Formen der Digitalisierung analysiert: Telemedizin (1), Techniken der Selbstvermessung (2), Big Data Analysesysteme (3) und die Digitalisierung von Krankenhausabläufen (4).

Die Arbeit zeigt auf, dass es als zentrale Folge der Digitalisierung zu einer medialen Erhitzung des interaktiven professionellen Erfahrungsraums kommt. Damit wird ein Teil der hermeneutischen Prozesse getilgt, die notwendig sind, um den Patienten und seine Krankheit zu verstehen. Ebenso droht die konstitutionelle Unsicherheit in diagnostischen und therapeutischen Fragen aufgrund vermeintlicher medialer Eindeutigkeit abgeblendet zu werden. Wenngleich die hiermit einhergehenden Kompetenzen in der Regel implizit, macht gerade die Fähigkeit mit Unsicherheit umzugehen und dem Patienten und seinem Körper dialogisch begegnen zu können den professionellen Akteur aus.

Um die professionelle Praxis weiterhin in der Gesellschaft zu halten, wird ein neues Wissen um die problematische Selektivität der unterschiedlichen Digitalisierungsformen nötig. Mit der Digitalisierung, so schließt diese Arbeit, entstehen gerade in der ethisch bedeutsamen professionellen Arbeit Verschiebungen zwischen dem Impliziten und dem Expliziten.

Ethische Folgeabschätzungen kommen deshalb nicht umhin, zu ersterem ein tieferes Verständnis zu entwickeln, denn mit Ludwig Wittgenstein darf gerade in den Bereichen des Impliziten das Gute vermutet werden.

Insbesondere zwei wichtige Schlussfolgerungen für Projekte zur Erforschung ethischer Konsequenzen der Digitalisierung lassen sich aus dieser Masterarbeit ziehen:

(1) Für das Beispiel der ärztlichen Praxis kommt diese Studie zum Schluss, dass es in Anlehnung an Michael Polanyi als dystopische Digitalisierung zu beschreiben wäre, würde diese vor allem die eigene Objektivität und Neutralität behaupten. Es wäre eine drastische Ignoranz gegenüber dem Impliziten sozialer Praxis und würde als Nebenfolge digitaler Techniken, die Arzt-Patient-Interaktivität auch dort beseitigen, wo es wie in der ärztlichen Praxis um persönliche und autonom nicht bewältigbare Krisen geht. Angesichts dieser Dystopie der Digitalisierung gilt es die von Polanyi noch unbeantwortete „Schwierigkeit … eine tragfähige Alternative zum Ideal der Objektivität zu finden … auf die uns Theorie des impliziten Wissens vorbereiten sollte“ (ders. 2016: S. 31). Eine solche Alternative zum Ideal der Übernahme neutraler und objektiver Formen der Digitalisierung in die professionelle Praxis stellt das Ideal der interaktiven Hermeneutik des Klienten und seiner Krise sowie dessen leiblich-praktische Realisierung dar. Nur wenn dieses Ideal eine Berücksichtigung findet, wird der Umbau impliziten Wissens und impliziter Ethik durch die Digitalisierung selbst als ethisch relevante Entscheidung beobachtbar und reflektierbar.

Angesichts der allseits anerkannten Wichtigkeit von ethischen Ansprüchen wie des hippokratischen Eids kann eine solche Position die implizite Voraussetzungshaftigkeit der hiermit einhergehenden Haltungen herausarbeiten. Sie kann zeigen, auf welche Weise diese auf die professionelle Praxis einzahlen, weil erst in impliziten Verhältnissen die Lücke zwischen ethischen Ansprüchen wie dem hippokratischen Eid und der Praxis performativ gefüllt wird (etwa indem situativ Vertrauensfragen und andere Unsicherheiten ausbalanciert werden). Dieser Perspektive sollten wir uns gewahr werden, da sich kaum sagen lässt, was kommt, sollte dieses Implizite erst einmal verloren gegangen sein und es dann möglichweise so etwas wie eine professionelle Arzt-Patient-Beziehung nicht mehr gibt.

(2) Darüber hinaus werden mit dieser Arbeit die Anforderungen klar, die sozialwissenschaftliche Projekte zur Erforschung der Folgenhaftigkeit der Digitalisierung zu beachten haben: Wer versucht, die Folgenhaftigkeit der Digitalisierung auf verschiedene Ausschnitte sozialer Praxis zu untersuchen, ist auf ein möglichst granulares Verständnis dieser sozialen Praxis angewiesen und muss sich dafür, wo nötig, unterschiedlicher theoretischer wissenschaftlicher Disziplinen bedienen. Zu einem solchen sorgsamen Umgang mit sozialer Praxis mahnt die Soziologie an, indem sie sozialer Praxis eine eigene Form der Ausdifferenzierung von Gesellschaft unterstellt.

Die an einem solchen präzisen Verständnis sozialer Praxis anschließenden Fragen zur Digitalisierung sollten dementsprechend weniger darauf fokussieren, welche generellen Aussagen über die Digitalisierung zu treffen sind, sondern haben sich an den konkreten im Kontext der untersuchten sozialen Praxis auffindbaren Formen von Digitalisierung zu orientieren. Die eine Frage muss dann – je nach der konkreten Form der Digitalisierung – lauten: Welche Landkarte unserer Welt impliziert diese Digitalisierungsform als Digitalisiertes und inwieweit unterscheidet sich diese dann – je nach Nutzung möglichweise folgenschwer – von dem unterliegenden Territorium unserer alltäglichen Praxen (vgl. hierzu Latour 2014: S. 143). Nur so werden Verluste wie Hinzugewinne neuer Territorien beobachtbar, was in Maximilian Lochers Arbeit unter anderem an der Differenz zwischen der über Interaktionen einverleibten Hermeneutik des Kranken (einschließlich seiner Krankheit) und dessen virtuellen Vermessung dargestellt wurde.

Die andere, ebenso bedeutsame Frage hat die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie sich mit der Verfügbarkeit dieser neuen Landkarte(n) das Wie der Bewegung im Territorium verändert. Wie verändern sich als also für die Nutzer dieser digitalen Landkarten die Bewegungsmöglichkeiten, welche neuen Pfade werden aufgebaut, welche Wege werden eingeschränkt oder gar gesperrt?

Dies wurde in der vorliegenden Studie anhand der Verschiebungen in den impliziten Wissensbeständen ärztlicher Tätigkeit und in Folge an den Veränderungen der interaktiven Qualität des ärztlichen Erfahrungsraums gezeigt. Raum zur weiteren Erforschung der Folgen der Digitalisierung auf unsere implizit normativen Lebens- und Arbeitsverhältnisse bleibt allemal.

 

Kontakt:

Maximilian Locher

Maximilian.Locher@uni-wh.de

 

Publikation:

Locher, M., 2017, Aus implizit wird explizit - Folgend der Digitalisierung für Professionen am Beispiel der Ärzte.

Beitrag vom 18.08.2020

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