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Corona führt uns vor, in welcher Gesellschaft wir leben (möchten)

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Corona führt uns vor, in welcher Gesellschaft wir leben (möchten)

Wir haben noch nicht gelernt, uns auf einer guten Weise in den durch digitale Medien geprägten Sozialitäten einzurichten. Rezension zu „Lockdown: Das Anhalten der Welt. Debatte zur Domestifizierung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.“  

Wir alle erfahren es derzeit täglich: Corona ruft nicht nur im menschlichen Körper Folgeprobleme und Immunreaktionen hervor, sondern auch in der sozialen Sphäre – in der Gesellschaft. Es ist der Verdienst von Heiko Kleve, Steffen Roth und Fritz Simon unprätentiös und mit großer intellektueller Schärfe die hiermit einhergehenden Grauzonen ausgelotet zu haben. Geschehen ist dies in Form einer Kontroverse im Rahmen des Blogs des Carl-Auer Verlags, zu der auch einige Gäste eingeladen wurden. Jenseits der beiden Pole der Corona-Leugnung und kritikloser Affirmation der epidemiologischen Rationalität des Lockdowns entsteht hier ein Raum, der die Aufmerksamkeit wieder auf die Frage lenkt, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Die Texte wurden anschließend zu einem Buch aufgearbeitet.

An verschiedener Stelle zeigt sich das Verhältnis von Wirtschaft und Staat als einer der Knotenpunkte der Debatte: „Wir wissen, dass das Medium der Wirtschaft, Geld, nicht alles ist – dass aber alles nichts ist, wenn wir kein Geld haben, um unsere Existenz zu sichern“, bemerkt Heiko Kleve und fährt fort: „Aufgrund des Lockdowns, der zahlreiche Wirtschaftsbereiche stillstellt, der für viele Menschen extrem existenzgefährdend ist, ihre ökonomischen Einkommensquellen versiegen lässt, springt die Politik mit milliardenschweren Hilfsprogrammen ein. Der politische Staat, der mit seiner Macht kollektiv bindende Entscheidungen treffen kann und aus gesundheitlichen Gründen den Lockdown verordnet hat, ist zugleich der Retter aus der Not.“

Hiermit einhergehend ergeben sich jedoch eine Reihe von Fragen. Lässt sich im positiven Sinne etwas von der jetzigen Corona Erfahrung in eine „Ökonomie der Sorge“ (Priddat) überführen? Eröffnet dieses „Anhalten der Welt“ (Simon) den Übergang in Postwachstumsgesellschaft?  Bietet es gar die Chance, das Ende des Marktfundamentalismus einzuläuten? Oder kann es nicht umgekehrt auch zu einem neuen Radikalliberalismus (Roth) kommen, allein schon weil der Staat nach diesen Rettungsaktionen schlichtweg pleite sein und damit kaum mehr Gestaltungsspielräume haben wird? Kann die durch Gesundheitsimperative legitimierte neue Macht des Staates nicht auch zum stillschweigenden Übergang in autoritäre Regime führen? Welche Länder tendieren in die eine, welche in die andere Richtung?

Wie auch immer: „Die Welt steht nicht still, aber im Moment scheint sie die Drehrichtung zu ändern – nicht zurück, sondern irgendwie anders“ (Simon).

Allein schon die hiermit aufgeworfenen Fragen machen deutlich: die Welt ist komplex, sie entzieht sich der Durchschaubarkeit und Ableitung eindeutiger Kausalitäten. Den Teilnehmern der Debatte gelingt es nicht, in eine einheitliche Problembeschreibung oder gar ein geteiltes Lösungsverständnis einzurasten. Doch entgegen dem Common Sense erscheint die Uneinigkeit unter den Wissenschaftlern kein Problem, sondern vielmehr gerade das Aushalten der Divergenzen als die eigentliche Tugend.

Franz Hoegl verweist auf den Preis, der für die Alternative einer trügerischen Eindeutigkeit zu zahlen ist: „Andere reduzieren die Komplexität, indem sie, wie eine Art Bad-Design-Aficinados, hinter allem, was geschieht, einen absichtsvollen Plan vermuten, der sich aber nur dem Spezialisten, dem Kenner, dem Eingeweihten entbirgt. So gelingt es, ein offen unpersönliches Geschehen auf geheime, aber persönliche Entscheider zurückzuführen.“ Der ‚Durchblicker‘ mag sich zwar gutfühlen, muss sich dann jedoch gefallen lassen, von anderen auf ungedeckte Kausalitäten und bizarre Vorannahmen hin gegenbeobachtet zu werden. Russia Today, Breitbart, Compact, Rubikon und Bannons Warroom lassen grüßen! Unter den Gleichgesinnten, die man dort findet, ist man zwar nicht allein, doch „kollektive Intelligenz“ und „kollektive Blödheit“ (Simon) lassen sich damit kaum mehr unterscheiden.

Die Corona-Debatte lässt deutlich werden: Den „Weiß-nicht-Geist“ zu behalten ist klüger, als vermeintlich alles zu wissen. Damit ist auch Nachsichtigkeit gegenüber Wissenschaftlern und Politikern angesagt, die ab und zu ihre Meinung ändern mögen (etwa in der Frage der ‚Maske‘), denn es zeugt von der Bereitschaft zu lernen. Ein tastendes, explorierendes Muddling Through ist angesichts komplexer Lagen besser, als Festhalten und fanatisches Durchregieren. Dass dabei Fehler passieren – etwa, dass „die Mediziner Wochen brauchten, um zu erkennen, dass sie andere Krankheiten und deren Verläufe nicht weiterhin vernachlässigen durften“ (Lierschof) liegt in der Natur der Sache und ist entsprechend nicht zu vermeiden. Den allwissenden und alles richtig machenden Super-Mind gibt es nicht! (So gerne Verschwörungstheoretiker daran glauben mögen, um sich selbst imaginär an diese Stelle zu setzen).

Ein anderer Knotenpunkt kreist um die Frage unseres Umgangs mit dem Tode. Steffen Roth sieht in dem Anti-Corona-Aktionismus eine Form der Todesverdrängung im Spiel. Fritz Simon weist demgegenüber darauf hin, dass „es bei all den Corona Einschränkungen nicht um Vermeidung des individuellen Todes »an sich«“ gehe, „sondern um die Vermeidung eines kollektiven Geschehens, nämlich der Ausbreitung einer Seuche. Es geht, um es krass zu formulieren, um Statistik.“ Für den Einzelnen kann es rational sein, ein bestimmtes, kalkulierbares Risiko einzugehen, doch für „eine größere soziale Einheit“ stellt sich das Problem anders dar. Bei einer Sterblichkeit von etwa einem Prozent gehöre ich selber vermutlich eher nicht zu den Betroffenen, aber haben wir deshalb das Recht, in einer Gruppe von hundert Menschen, einen Toten in Kauf zu nehmen und die Ärzte mit der Behandlung weiterer schwieriger Fälle zu belasten? Dass sich etwa mit Blick auf das Tragen einer Maske solch‘ eine Frage überhaupt stellt, erscheint für Dirk Baecker an anderer Stelle vor allem Ausdruck eines (falsch verstandenen) westlichen Individualismus (https://kure.hypotheses.org). Im Westen erscheint die Maske als eine lästige Pflicht oder Zumutung. In Asien ist sie schlichtweg eine Geste der Höflichkeit gegenüber dem anderen.

Nicht zuletzt weist Bernhard Pörksen auf die Mediendynamik der Corona Kommunikation hin. Letztere deutet darauf hin, dass unsere derzeitige Verletzlichkeit möglicherweise weniger auf dem Corona-Virus beruht, denn auf der kaum zu lösenden Verschränkung unserer Psychen mit der digitalen Gesellschaft. „Was wäre unsere Wirklichkeit ohne das Netz? Und was würden wir über das Coronavirus ohne Liveticker, Echtzeit-Berichte und Breaking-News-Schlagzeilen denken? In welcher Gefühlswelt würden wir ohne die mikroskopische Registratur von dramatischen Wendungen und Zäsuren und ihrer maximalen Vergrößerung auf der Weltbühne des Netzes existieren?“ formuliert Pörksen. „Was wäre, wenn wir, wie zu Zeiten der Spanischen Grippe im Jahre 1918/1919 mit Millionen von Infizierten und bis zu 50 Millionen Toten, aufgrund der geltenden Zensur und regiert von den Verzögerungseffekten der Printwelt und der damals herrschenden Papierknappheit, nichts Genaues wüssten von den Sterbenden in den USA, in Brasilien oder im eigenen Land? […]“ Am 3. Januar 1919 fand sich in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ die folgende Notiz: „Es ist seltsam, wie gelassen die Welt die furchtbare Influenza-Epidemie, die sie während der letzten Monate heimgesucht, hingenommen hat, und wie wenig Aufsehen auch die schlimmsten Sensationsblätter von ihr gemacht haben.“ Pörksen stellt fest, dass „von diesem Gefühl der Gelassenheit […] heute, gut hundert Jahre später, nichts zu spüren“ ist. „Im Gegenteil. Das Stimmungsschicksal vernetzter Gesellschaften, die den klug und behutsam dosierten Umgang mit ihren Affekten noch nicht beherrschen, ist die Verstörung, die Irritation.“

Corona ist nicht nur ein krankmachender Virus. Corona führt uns auch deutlich vor, in welcher Gesellschaft wir leben und dass wir noch nicht gelernt haben, uns auf einer guten Weise in den durch digitale Medien geprägten Sozialitäten einzurichten.

 

Kontakt:

Werner Vogd

Werner.Vogd@uni-wh.de

 

Literatur:

Heiko Kleve, Steffen Roth & Fritz Simon (Hrsg.) (2020): Lockdown: Das Anhalten der Welt. Debatte zur Domestifizierung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Carl-Auer Verlag

https://www.carl-auer.de/lockdown-das-anhalten-der-welt

Beitrag vom 11.11.2020

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