Beitrag aus der Kategorie E&O denkt

Corona: Physical distancing ≠ social distancing

Corona: Physical distancing ≠ social distancing

Die Sehnsucht nach Nähe und das Potential des Virtuellen

 

Die Kritik an modernen Kommunikationsformen in virtuellen Welten, wie sie 2011 von Sherry Turkle vorgestellt wurde, wird in Anbetracht der gegenwärtigen Krise des Physischen in ihr Gegenteil gewendet. Turkles Buchtitel „Alone together“ beklagt zwar trefflich das Trennende, das durch moderne Telekommunikation in die Gesellschaft Einzug gehalten habe. (vgl. Turkle, 2011). Doch wie auch die soziale Distanzierung durch die bundesdeutsche Kanzlerin neu gerahmt wurde (die solidarische Trennung), lässt sich heute plötzlich nur mehr im Alleinsein das Soziale pflegen. Während die digitale Surferin, der Twitterer oder die Computerspielerinnengruppe vor wenigen Wochen noch als vereinsamte Opfer der Digitalisierung galten, stehen sie plötzlich für die solidarische Speerspitze des Mitgefühls. Die Flucht ins Virtuelle rettet das Reale, sozusagen. 

Aber welche Freiheiten, welches Potential und welche Möglichkeiten bieten die sogenannten virtuellen Realitäten (VR) eigentlich? Was macht die VR-Technologien so besonders? Im Prinzip hat Virtual Reality seit Anbeginn nicht weniger versprochen, als das „ultimative display“ (Sutherland, 1965) zu werden, welches alle bisherigen Medienformate in sich zu integrieren vermag. Gleichzeitig zielen die Technologien virtueller Realität sowohl von ihrem strukturellen Funktionsprinzip als auch ihrer haptischen Interaktionsweise auf die Verwischung der Grenze von Virtuellem und Realem. Selbst die aktuelle Generation von VR ermöglicht es, sich im Virtuellen einem Modus anzunähern, der von Martin Heidegger in Sein und Zeit ausführlich beschrieben wurde: dem Modus des „In-der-Welt-Seins“. Ohne Präsenz, ohne die Wahrnehmung eines In-der-Welt-Seins wäre VR nichts anderes als ein weiteres Bildschirmmedium, von dem man sich leicht distanzieren könnte. Das randlose Medium von VR verhindert aber genau dies. Insbesondere in der Nutzung von VR wird damit deutlich, dass jede Wahrnehmung immer nur momentan, unmittelbar und kompakt ist. Die Wahrnehmung von Präsenz findet ausschließlich im Präsens statt. Oder wie Maurice Merleau-Ponty betont: Zu einer Wahrnehmung lässt sich nur schwerlich nein sagen. (vgl. Merleau-Ponty, 2008)

Nähe und Präsenz

Die Magie virtueller Realitäten liegt genau in dieser Fähigkeit begründet: VR ermöglicht es der Benutzerin oder dem Benutzer das Gefühl zu geben, in der virtuellen Umgebung körperlich präsent zu sein: “Presence is defined as the perceptual illusion of non-mediation… an illusion of non-mediation occurs when a person fails to perceive or acknowledge the existence of a medium in his/her communication environment and responds as he/she would if the medium were not there.” (Lombard und Ditton, 1997). Aber, so können wir noch hinzufügen: auch die Presence der zwischenmenschlichen Nähe, die aktuell angesichts des gesellschaftlichen Virusbefalls freiwillig verhindert wird, ist medial vermittelt. Sowohl durch Kommunikation sowie durch Wahrnehmung versichern wir uns gegenseitig das jeweilige anwesend Sein. Gleichzeitig wird nur selten der medialen Form dieses Präsenzgefühls Aufmerksamkeit geschenkt (Ausnahmen bestätigen hier die Regel, wie etwa in Therapie, Meditation oder Theoriereflexionen zu beobachten). Dabei lehren uns die Neurowissenschaften seit längerem, dass unsere Sinnesorganisation gar nicht die „echte“ Wirklichkeit vermitteln können, sondern nur nützliche, überlebenstaugliche Fiktionen erzeugen: „Die zeitgenössische Begeisterung für das Vordringen des Menschen in künstliche virtuelle Welten übersieht, dass wir uns immer schon in einem biologisch erzeugten ‚Phenospace‘ befinden: innerhalb einer durch mentale Simulation erzeugten virtuellen Realität“ (Metzinger, 1999) schreibt Thomas Metzinger. Die gegenseitige Wahrnehmung von Präsenz ist aus dieser Perspektive immer schon fiktionale oder virtuelle Simulation gewesen – eine Gehirn-interne Simulation vermeintlicher Ausdrucksformen und Intentionen anderer. Eine zwar registrierbare, aber gleichwohl unüberbrückbare Lücke zwischen uns Menschen zwingt uns bekanntlich zur behelfsmäßigen Lösung Kommunikation. Aber gleichzeitig zeugt jedes Vorkommen von Kommunikation wiederum als Indikator für die Mediatisierung des Zwischenmenschlichen. 

Und dann spielt es eigentlich kaum eine Rolle, ob die digitalen utopischen Orte als Formen des Eskapismus abgestempelt werden, als Degeneration des Abendlandes oder als innovative Praxen des therapeutischen Settings gefeiert bzw. ganz trivial als bloßes Unterhaltungsmedium verwendet werden. Wie jede technische Erfindung bietet auch VR diverse Nutzungsmöglichkeiten, die in der einen oder anderen Form zu Miss- und Gebrauch führen können. Die utopische Verlockung des Alternativen, die durch die Technologien virtueller Realität versprochen wird, hebt jedenfalls auch diese Diskussion auf ein neues Niveau und die damit verbundenen Ideen der Freiheit erscheinen nicht mehr allzu überraschend.

Realitätsverdopplungen

Die Perspektive auf sich selbst oder die Welt zu ändern – generell ein schwieriges Unterfangen. Aber gerade in Zeiten wie diesen bietet sich die Chance, neu über Bestehendes nachzudenken: Eingefahrene Routinen, vermeintliche Alternativlosigkeiten oder auch bedeutungslose Tätigkeiten tauchen als genau diese auf. Aber auch ohne Krise hält die Gesellschaft etablierte Formate bereit, sich in Perspektivität zu üben. Mit dem Begriff der „Realitätsverdopplung“ versucht Niklas Luhmann (zumindest für die Bereiche Statistik, Kunst, Religion und Spiel) eine Unterscheidung von virtuellen Realitäten und realen Realitäten zu konzipieren: „Für die Welt hat das zunächst zur Folge, daß der Begriff der Realität einen qualifizierenden Sinn annimmt. Erst dadurch entsteht überhaupt Realität, die bezeichnet, das heißt: von anderem unterschieden werden kann. Die Welt enthält dann etwas, was nicht in diesem engeren Sinne real ist, aber gleichwohl als Position eines Beobachters dienen und seinerseits beobachtet werden kann. Es ist dann nicht mehr einfach alles, was ist, real, indem es ist, wie es ist, sondern es wird eine besondere, sagen wir reale Realität dadurch erzeugt, daß es etwas gibt, was sich von ihr unterscheidet. (…) Für einen Beobachter entsteht erst dann Realität, wenn es in der Welt etwas gibt, wovon sie unterschieden werden kann; erst dadurch kann Realität gewissermaßen gehärtet werden im Vergleich zu einer eher fluiden Welt der Imagination.“ (Luhmann, 2002).

Während bereits die virtuellen Welten gewöhnlicher Computerspiele jeweils Realitätsverdopplungen konstituieren, indem sie zwischen der fiktiven Realität des Spiels und der realen Realität des nicht-Spiels unterscheiden, machen die Erfahrungen in VR in gewisser Weise die Mechanismen der Genese realer Realität beobachtbar. Virtuelle Realität macht »reale Realität« erst unterscheidbar. Sie zeigt deren Begrenztheiten und Un-Möglichkeiten auf und zieht damit eine neue Beobachterperspektive auf Welt und Selbst ein, die von nun an zur Verfügung steht. Es dürfte deutlich sein, dass dies gänzlich neue Formen der Reflexivität ermöglicht: “VR technology will eventually change not only our general image of humanity but also our understanding of deeply entrenched notions, such as ‘conscious experience’, ‘selfhood’, ‘authenticity’, or ‘realness’. In addition, it will transform the structure of our life-world, bringing about entirely novel forms of everyday social interactions and changing the very relationship we have to our own minds.” (Madary und Metzinger, 2016). Eine solche Beobachtung von Alternativen und Möglichkeiten könnte sich als äußerst wertvoll für eine Gesellschaft erweisen, die sich zunehmend mit Kontingenzen konfrontiert sieht (vgl. Esposito, 2010). Vielleicht sind auch aus diesem Grund Videospiele in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts so attraktiv. Denn insbesondere digitale Spiele erlauben es, mit der Unterscheidung von realen und virtuellen Möglichkeiten zu spielen, und tragen somit zur Fähigkeit bei, mit Kontingenz kompetent umzugehen. 

Die freiwillige Isolation in Zeiten von COVID-19 führt uns jedenfalls die enge Verbundenheit mit der Welt nochmals gesteigert vor Augen. Und gerade deshalb ist es zu wünschen, dass der hedonistische Individualismus, der sich im Westen seit der Aufklärung ausbreitet, wieder zurückgedrängt wird. Ein kultureller Primat nämlich, der in der Arroganz vermeintlicher Überlegenheit die Sorgen, Nöte und Probleme anderer ausblendet oder gar willentlich übergeht. Und es ist zu wünschen, dass an seine Stelle ein lebendiges Wissen über die relationale Rationalität der Welt und des Selbst tritt.9 Bis sich dieses Verhältnis jedoch neu justiert – wenn überhaupt –, bietet es sich an, sich zumindest im spielerischen Virtuellen darin zu üben. Einer Sphäre also, die Realität in der Schwebe hält und stets zwischen intimer Nähe und vermittelnder Distanz oszilliert. Wie in der Parabel über das 18. Kamel ist Virtualität abstrakte Möglichkeit und reale Kraft zugleich. Obwohl sie keine materielle Repräsentation besitzt, ist Virtuelles bereits real verfügbar.

Freiheitsgrade und Realitätsgewinne

Bei all dieser teils zutreffenden Kritik muss jedoch betont werden, dass Technik ihre Nutzung noch nie determinieren konnte und es sollte zudem deutlich geworden sein, dass man es bei der Nutzung von VR nicht mit einem Realitätsverlust zu tun hat, wie er traditionell als ‚Untergang des Abendlands‘ besungen wird, sondern ganz im Gegenteil: mit einem Realitätsgewinn! Denn es sollte nicht vergessen werden, dass die Verwendung von VR nicht zwangsläufig darauf abzielt, die gewöhnliche Realität in einer verlustfreien Kopie zu simulieren. Das wahre Potenzial von VR entfaltet sich erst dadurch, dass sie als neues Fundament für Phantasie und Begehren, für Kunst und Kultur und damit für die Produktion und Reflexion alternativer Möglichkeiten genutzt wird. Das Erstaunen über die Möglichkeiten von VR ist dann nichts weniger als die unterhaltsame Sabotage gewöhnlicher Präsenz und gleichzeitig ist es das Erstaunen über den Reichtum der Welt und über sich selbst. Das Besondere an Virtual Reality liegt somit vor allem in seiner Differenz zur gewöhnlichen Realität.

Die digitalen Welten des Virtuellen sind in diesem Sinne kein Antagonismus zur gewöhnlichen Wirklichkeit, sondern fungieren vielmehr als homologe Alternative. Virtuelle Realität macht reale Realität unterscheidbar. Sie zeigt deren Begrenztheiten und Un-Möglichkeiten auf und zieht damit eine neue Beobachterperspektive auf Welt und Wirklichkeit ein, die von nun an zur Verfügung steht. Das Handeln und Erleben in virtuellen Welten ist also nicht mit einem Realitätsverlust verbunden, wie man zunächst vermuten könnte, sondern vielmehr mit einem Realitätsgewinn. VR eröffnet der Gesellschaft neue Beobachtungsmöglichkeiten und mehr (reflexive) Freiheitsgrade. Und genau diese Freiheitsgrade erscheinen in der gegenwärtigen Zeit des selbstauferlegten Freiheitsentzugs nochmals wertvoller.

 

Kontakt: 

Jonathan Harth

Jonathan.Harth@uni-wh.de

 

Literatur:

Sherry Turkle: Alone together. Why we expect more from technology and less from each other, New York, 2011.

Ivan E. Sutherland: The Ultimate Display. Proceedings of IFIP Congress, 1965: 506-508.

Maurice Merleau-PontyPhänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gryuter, 2008.

Matthew Lombard und Theresa Ditton: At the heart of it all: The concept of Presence. Journal of Computer-Mediated Communication 3(2), 1997: 9

Thomas MetzingerSubjekt und Selbstmodell. Paderborn: Mentis, 1999: 243.

Niklas LuhmannDie Religion der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2002: 59

Michael Madary und Thomas Metzinger: Virtuality: A Code of Ethical Conduct. Recommendations for Good Scientific Practice and the Consumers of VR-Technology. Frontiers in Robotics and AI, 3(3), 2016: 18. DOI.

Elena Esposito: Ästhetik und Spiel. Formen der Kontingenz in der pluralen Realität. In: Manuela Pietraß und Rüdiger Funiok (Hrsg.): Mensch und Medien. Philosophische und sozialwissenschaftliche Perspektiven, Wiesbaden 2010: 159-177.

 

Sonstige Literatur:

Robert SeyfertBeziehungsweisen. Elemente einer relationalen Soziologie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2019

Tingyang ZhaoAlles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Berlin: Suhrkamp, 2020

 

Publikationen:

Werner Vogd und Jonathan Harth: Relational Phenomenology: Individual Experience and Social Meaning in Buddhist Meditation. Journal of Consciousness Studies, 26(7-8) 2019: 238-267.

Beitrag vom 28.10.2020

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