Beitrag aus der Kategorie E&O schreibt

ETHIK IST IMMER

ETHIK IST IMMER

Martin W. Schnell erklärt mit Blick auf die Philosophie von Emmanuel Levinas, warum das ethische Element gleichsam zu den Grundstoffen unserer menschlichen Existenz gehört: Ob wir es wollen oder nicht, die Beziehung zum Anderen ist für uns relevant.

In der Sozialphilosophie, die ich als Fach vertrete, ist die Frage nach dem Anderen eine Schlüsselfrage. Wie ist der Andere für mich möglich? Warum kann ein Anderer auch „Ich“ zu sich selbst sagen? Antworten auf diese Grundfragen gibt es, seitdem es Menschen gibt. Reflektiert werden sie spätestens seit Aristoteles. Husserls Cartesianische Meditationen von 1931 bringen eine einschneidende Wende in dieser Reflexion mit sich. Husserl stellt darin zwei wichtige Punkte heraus. Erstens: die Frage nach dem Anderen ist eine Sache der Fremderfahrung. Durch ihn wächst unserer Situation etwas zu, das nicht von mir stammt, mich aber mitbetrifft. Damit ist deutlich, dass der Andere in der Hauptsache nicht als Alter Ego (Aristoteles, Habermas), nicht als Fall einer Regel (Kant, Fichte) und nicht als Teil einer Lebensform (Hegel) gewonnen werden kann.

Zweitens: zur ersten Philosophie (Prima Philosophia), zu der klassisch nur das Ego Cogito zählt, gehört jetzt auch die Intersubjektivität dazu. Damit sind jeder Deduktion des Anderen aus den Leistungen eines transzendentalen Ichs deutliche Grenzen gesetzt. Der Andere ist nicht von meines Gnaden, sondern außerhalb ihrer. Das Selbst wird vulnerabel, weil es dem Anderen ausgesetzt ist und unter seinen Augen in der Welt agiert.

Sinn und Bedeutung, kurz: alles, was Wahrheit beanspruchen will, hat sich vor dem Anderen, der all‘ meine Vorstellungen begleiten können muss, auszuweisen. Aus diesem Faktum folgt, dass alles Tun mit Rücksicht auf den Anderen geschieht. „Mit Rücksicht auf …“ verweist darauf, dass das Ferment der Bedeutung, die Beziehung zum Anderen, ethisch relevant ist. Damit ist noch keine spezielle Ethik wie Teleologie, Deontologie, Sittlichkeit, Utilitarismus oder Kontraktualismus gemeint, sondern ein Element. Levinas unterscheidet zwischen Ding, Zeug und Element. Im Unterschied zum Zeug des Werkens und Objekten des Besitzes, die bemächtigt und bearbeitet werden, ist ein Element etwas, worin und woraus wir leben. Elemente sind Grundstoffe des Existierens, die auf uns bezogen sind, aber doch fremd bleiben. Mit ihnen muss man sich gut stellen, denn ohne sie geht nichts.

In allen Bezügen zur Welt kommt der Andere mit vor. Das gilt auch für Robinson Crusoe auf der einsamen Insel, wie Marx gezeigt hat. Ethik ist insofern immer. Sie ist nicht immer alles und kann sich per se nicht an die Stelle von Wahrheit oder Gewalt setzen. Imre Kertész spricht vom Augenblick der Stille, während das Erschießungskommando neu lädt. Die tiefe Trauer dieses Augenblicks ist nur aufgrund der Ethik dieses Augenblicks möglich – einer Ethik, die übrigens nicht in der Stille und damit am Rande der Gefahr des Verschweigens liegt, sondern in der Rede und zwar Dritten gegenüber, die Andere des Anderen sind.

 

Kontakt:

Martin W. Schnell

martin.schnell@uni-wh.de

 

Publikation:

Der Titel „Ethik ist immer“ wurde zum ersten Mal in folgendem Beitrag eingeführt:

Martin W. Schnell (2015): Ethik ist immer. Pflegen: Demenz (2/2015). S. 20ff.

Beitrag vom 12.11.2020

Die Universität Witten/Herdecke ist durch das NRW-Wissenschaftsministerium staatlich anerkannt und wird – sowohl als Institution wie auch für ihre einzelnen Studiengänge – regelmäßig akkreditiert durch: