Beitrag aus der Kategorie E&O forscht

Missbrauch in spirituellen und religiösen Organisationen am Beispiel von Rigpa

Missbrauch in spirituellen und religiösen Organisationen am Beispiel von Rigpa

Im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts „Buddhismus im Westen“ wurde die Missbrauchsdynamik um den Lama Sogyal Rinpoche aus einer systemischen Perspektive aufgearbeitet. Die aufgezeigten Strukturdynamiken betreffen im Prinzip alle Bereiche, in denen Menschen zusammenkommen, um etwas zu erreichen, was über sie selbst hinausweist.

Zur Seite des Forschungsprojekts „Buddhismus im Westen"

Hier der Link zum Vortrag von Werner Vogd auf der E&O "X" Veranstaltung im Januar 2021.

Eine von vielen Menschen geschätzte und verehrte öffentliche Person – der spirituelle Leiter eines weltweiten Netzwerkes des tibetischen Buddhismus - ist in Ungnade gefallen.

Was nicht sein kann, darf nicht sein und wenn sich die Vorwürfe nicht mehr überhören lassen, ist die Enttäuschung kaum aushaltbar. Die einen können und wollen es immer noch nicht glauben. Andere wenden sich empört ab. Dritte versuchen, zu retten, was noch zu retten ist. Hilfe von außen wird gesucht.

So unglaublich das Vorgeworfene zu sein scheint („Der spirituelle Meister war doch so großartig!“, „So viele Menschen haben von ihm profitiert!“), so schnell sind Erklärungen bei der Hand. Was nicht sein kann, darf nicht sein und wenn sich die Vorwürfe nicht mehr überhören lassen, ist die Enttäuschung kaum aushaltbar. Die einen können und wollen es immer noch nicht glauben. Andere wenden sich empört ab. Dritte versuchen, zu retten, was noch zu retten ist. Hilfe von außen wird gesucht. Was vorher undenkbar war, scheint jetzt offensichtlich zu sein. Man ist enttäuscht worden und damit scheinen auch die Rollen von Opfer und Täter klar zu sein.

Aber stellt sich das Verhältnis von Täuschung und Enttäuschung wirklich so einfach dar? Hat man nicht selbst auch getäuscht – sich selbst und andere? Wollte man nicht auch getäuscht werden? Und wie sieht es mit den eigenen Projektionen auf den Lehrer aus?

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich hier ein komplexes Geflecht aus Beziehungen. Entsprechend bedarf es eines systemischen Blicks, um dieses aufschließen und verstehen zu können. Hiermit landen wir bei dem Kernanliegen dieses Forschungsprojekts.

Anhand von Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern Sogyal Rinpoches sowie aktiven Mitgliedern der von ihm gegründeten Rigpa-Gemeinschaft, konnte aus einer systemischen Perspektive rekonstruiert werden, wie sich unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Dynamik wechselseitig stabilisieren. Dabei wird deutlich, dass auch das vermeintlich individuelle spirituelle Erleben – ebenso wie der Missbrauch – eine Systemeigenschaft darstellt, also erst innerhalb einer spezifischen Relation in einem übergreifenden Rollengefüge möglich wird. Spirituelle Erhabenheit und ihr Gegenteil – der Betrug oder die Enttäuschung und hiermit einhergehend Depression und Verwirrung – werden gemeinsam hergestellt.

Wie sich beispielsweise auch in der Analyse von Lehrer-Schüler-Verhältnissen von Novizen zeigt, kann Kritik von einzelnen Akteuren aufgrund der Gruppendynamik schnell als individuelles Problem eines Menschen markiert werden, der nur stören wolle oder es eben nicht verstanden habe. Damit wird quasi sichergestellt, dass die geneigten Schülerinnen und Schülern weiter auf das Versprechen der spirituellen Führung durch den Lama hoffen. Derselbe Mechanismus zeigt sich im Falle von Aussteigerinnen und Aussteigern, die zwar über Jahrzehnte aktiv dabei gewesen sind, deren Abwendung jedoch für die Ursprungsgemeinschaft bestenfalls als ein (mehr oder weniger bedauerlicher) individueller Akt erscheint, nicht jedoch das eigene Arrangement berührt. Um die Systemik einer Organisation wie Rigpa zu verändern, bedarf es also Interventionen, die eine soziale Dramatik entfalten, die das Verhältnis zwischen Gruppe, Mitgliedern und dem Lehrer irreversibel konditionieren, also nicht durch den Verweis auf die subjektive Position einzelner wieder abgewehrt werden können.


Hiermit wird zugleich deutlich, dass das Problem von Rigpa und anderen spirituellen oder religiösen Organisationen tiefer liegt, als es die meisten Beteiligten vermutlich wahrhaben wollen. Aufgrund des spezifischen systemischen Arrangements wird es nämlich kaum reichen, nur den Hauptlehrer auszutauschen, da gewissermaßen alle signifikanten Positionen der Organisation (insbesondere die langjährigen Schülerinnen und Schülern sowie all die Personen, die Meditationsgruppen anleiten), nicht zuletzt auch aufgrund der Lehren des tibetischen Buddhismus, daraufhin konditioniert sind, kritische Wahrnehmungen beiseitezuschieben und Fehlverhalten zu individualisieren. Die damit einhergehende Tendenz zu einer Überhöhung des Lehrers, die zum Missbrauch der angetragenen Macht einlädt, muss dann als eine Systemeigenschaft der untersuchten Organisation angesehen werden.


Aber auch die Täuschung stellt eine Systemeigenschaft dar, die nicht von einem Einzelnen gemacht oder korrigiert werden kann. Wenn eigene Erwartungen auf Erwartungen anderer treffen, können sie sich in zirkulärer Resonanz bestätigen, so dass die mit den Erwartungen verbundenen Hoffnungen wirklicher erscheinen als die gleichzeitig mitschwingenden Zweifel.
Die mit diesem Forschungsprojekt aufgezeigten systemischen Dynamiken finden sich auch in anderen Bereichen menschlicher Gemeinschaft und Gesellschaft. In jeder Organisation, die Menschen erzieht, bildet, bekehrt, coacht, therapiert oder sonst wie persönlich behandelt, kann schnell eine starke Asymmetrie zwischen den Funktionsträgern und den Empfängern dieser Angebote entstehen. Da es sich in der Regel um ‚immaterielle Angebote‘ handelt und sich die Qualität einer therapeutischen, pädagogischen oder spirituellen Intervention nicht unmittelbar zeigt, bleiben die Kriterien für die Beurteilung einer angemessenen Praxis einerseits unscharf, andererseits entsteht in den Interaktionen leicht eine hohe Beziehungsintensität, die bei den Betroffenen Gefühle der Dankbarkeit und Liebe auslöst. Die hiermit einhergehenden Gruppendynamiken verstärken ihrerseits das Charisma derjenigen, auf die sich die Hoffnung auf Transformation und Veränderung richtet. Entsprechend fällt es schwer, das zu sehen, was nicht sein darf. Ob man will oder nicht: Viele Felder unseres Lebens sind durch dieses komplexe Verhältnis von Gebrauch und Missbrauch geprägt. Pädagoginnen und Pädagogen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Ärztinnen und Ärtze und Priesterinnen und Priester wissen schon lange davon.

 

Kontakt:

Werner Vogd

werner.vogd@uni-wh.de

 

Publikationen:

Vogd, Werner (2019): „Der ermächtigte Meister – eine systemische Rekonstruktion am Beispiel des Skandals um Sogyal Rinpoche.“ Carl-Auer, Heidelberg.

„Liebe heißt sehen, dass der Meister fehlbar ist“. Interview mit Werner Vogd und Susanne Billig, Buddhismus Aktuell 3/2019, Download

Becoming Whole Healing in the wake of systemic abuse means seeing our teachers—and ourselves—clearly and with compassion. Interview with Werner Vogd by Susanne Billig Tricycle SUMMER 2020, Download

Vogd, Werner (2020). Eine Bodhisattva flieht nicht. Sie stellt sich dem Leiden, verurteilt nicht und handelt. Buddhismus Aktuell, 2/2020

Vogd, Werner & Harth, Jonathan (2019). Kontexturanalyse: eine Methodologie zur Rekonstruktion polykontexturaler Zusammenhänge, vorgeführt am Beispiel der Transgression in der Lehrer/in- Schüler/in-Beziehung im tibetischen Buddhismus. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 20(1), Art. 21, Download

 

Links zum Vortrag und der Diskussion zur Polyphonie bei der E&O "X" Veranstaltung im Janunar 2021:

Teil 1 Prof. Julia Genz zeigt anhand der Arzt-Patienten-Kommunikation auf, wie die Mehrdeutigkeit und Positionalität sprachlicher Äußerungen und Texte erschlossen werden können.

Teil 2 Ein Vortrag von Prof. Dr. Werner Vogd, der die Missbrauchsdynamik einer religiösen Organisation auf Basis der Polyphonie rekonstruiert.

Teil 3 Das letzte Video der Reihe beinhaltet die Abschlussdiskussion und Fragerunde.

Beitrag vom 27.10.2020

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