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Organisationsethische Gedanken am Beispiel des Maßregelvollzugs

Organisationsethische Gedanken am Beispiel des Maßregelvollzugs

Am 02.11.2020 brachten Till Jansen und Martin Feißt, wissenschaftliche Mitarbeiter im Projekt „Resozialisierung im Maßregelvollzug“, die vorliegenden Gedanken in ausführlicherer Form als Diskussionsvorlage im Rahmen des Forschungskolloquiums des Instituts für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum ein.

Wer eine Straftat begeht, kann aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens für schuldunfähig oder nur eingeschränkt schuldfähig erklärt werden (§§20/21 StGB). Der betreffenden Person wird dabei unterstellt, dass sie das Unrecht ihrer Tat nicht einsehen konnte oder nicht in der Lage war nach dieser Einsicht zu handeln. Da ihr keine Schuld zukommt kann die Person aus einer solchen Perspektive nicht für ihre Taten bestraft werden. Hält man sie darüber hinaus dennoch für die Allgemeinheit für gefährlich, geht man also davon aus, dass sie höchst wahrscheinlich weitere Personen verletzt, umbringt, vergewaltigt, o. Ä., dann kann ein Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§63 StGB) anordnen. Anstelle der moralischen Besserung durch Strafe tritt die medizinische Besserung durch Therapie. Da die Person aufgrund ihrer psychischen Störung für gefährlich gehalten wird, ist es das Ziel einer solchen Unterbringung sie nach „ärztlichen Gesichtspunkten“ soweit zu „heilen“ und zu „bessern“, dass sie nicht mehr gefährlich ist (vgl. §136 SVollzG). Gefährlichkeit und Krankheit – so die Annahme des Systems – hängen also unmittelbar miteinander zusammen. Das wirft viele Fragen und Folgeprobleme auf, von denen wir hier nur einige wenige thematisieren können.

Eine solche Maßregelvollzugsklinik muss qua Systemanlage im Spannungsfeld verschiedenster Paradoxien arbeiten. So stehen den Selbstbestimmungsrechten des Patienten die Fremdbestimmung durch die totale Institution gegenüber. Die Untergebrachten gelten als vulnerable Gruppe, sind somit nicht autonom, haben aber als autonom zu gelten aber und sollten auch so behandelt werden. Per Definition sind sie für das, was sie getan haben, nicht verantwortlich zu machen, ein Alltag unter der Prämisse der permanenten Unzurechnungsfähigkeit ist selbstredend auch nicht möglich. Therapie soll dabei bestmöglich auf Augenhöhe stattfinden, bewegt sich aber immer im Kontext starker Machtasymmetrien. Diese und viele weitere Gegensätze müssen unter den Bedingungen der Multireferentialität des organisationalen Alltags ver- und bearbeitet werden. Das bedeutet, dass jede Entscheidung und jede Handlung sich daran messen lassen muss, ob sie medizinisch indiziert ist, rechtlich vertretbar, pflegerisch sinnvoll, wirtschaftlich tragbar, politisch unbedenklich ist – um nur einige der zentralen Referenzen anzuführen, die im Alltag eine Rolle spielen. Als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter einer solchen Klinik sehe ich mich dann unweigerlich mit Situationen konfrontiert, in denen ich ad-hoc abwägen muss, wo ich durch die Macht, die ich eigentlich nicht über eine vulnerable Person haben sollte, die Freiheit, die ich als universalen Wert jedem zuspreche, einschränke, für die ich gleichzeitig Verantwortung anvertraut bekommen habe, die aber autonom über sich entscheiden soll, obwohl sie gerade deshalb in der Einrichtung ist, da sie für nicht zurechnungsfähig gehalten wurde, usw. usf.. In einem solchen Feld muss eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter des Maßregelvollzugs Tag für Tag (moralisch) navigieren können!

Es wird schnell deutlich, dass einfache individualethische Handlungsmaximen im Sinne von „Handle stets so, dass…“ usw. hier keine zufriedenstellenden Lösungen darstellen können. Auch vor dem Hintergrund normativer philosophischer Reflexionen erstellte Handreichungen wie Entscheidungsbäume ethischen Handelns mögen hier zwar Komplexität reduzieren und Sicherheit geben, aber auch solche Regeln können letztlich ihre eigene Anwendung nicht regeln, wie auch das Beispiel der Einführung eines Compliance-Officers zeigt (Ortmann, 2015). Solche Interventionen fügen dem multireferentiellen Organisationsgeschehen lediglich (aber immerhin) eine weitere Referenz hinzu, die ich anwenden kann, situativ unterlaufen kann, im Modus des Als-ob behandeln kann usw. usf.. Das bedeutet nicht, dass dies schlecht ist oder nicht sinnvoll. Aber sie entbindet den einzelnen nicht von der ethischen Entscheidung, ob und wie in der jeweiligen Situation zu entscheiden ist. Handle ich gegen die Empfehlung einer Ethikkommission, wenn es im Sinne des Patienten ist? Und wie ist dies rechtlich zu bewerten? Und was sagt die Pflege dazu? Das wirklich Ethische einer solchen Entscheidung, in dem Sinne wie wir Ethik im Anschluss an Wittgenstein verstehen, muss damit implizit bleiben. Es bleibt die situative, kontextabhängige Abwägung eines Einzelnen, die sich zwar auf moralische Sollsätze und Reflexionen beziehen kann und auch unter Rechtfertigungszwang steht, aber selbst nicht explizit werden kann.

All dies ist noch keine Frage der Organisationsethik im engeren Sinne. Es ist vielmehr eine Frage der Individualethik im Kontext organisationaler Einschränkungen oder – wie man so schön sagt –Sachzwänge. Aber diese organisationalen Einschränkungen sind, wie oben bereits angedeutet, selbst nie kohärent. Organisationen sind stets mehrwertige, polyvalente Gebilde und der Prozess des Organisierens besteht gerade darin, diese sich nur zu oft ausschließenden Werte Tag für Tag in ein halbwegs stabiles Arrangement zu bringen.

Was ist nun aber die organisationsethische Frage? Ein Vorschlag wäre, diese genau in den Bedingungen der Möglichkeit ethischen Handels zu verorten. Aufgabe der Organisation wäre es dann eine Balance zu finden zwischen zu rigiden Vorgaben auf der einen Seite und einem zu hohen Maß an Komplexität auf der anderen Seite. Sie darf den Einzelnen nicht moralisch Überfordern, muss aber auch dafür sorgen, dass sie eine hinreichende Komplexität bereithält, um somit für „moralische Bewegungsspielräume“ zu sorgen. Sie muss also dafür sorgen, dass innerhalb der Organisation situativ die medizinische Perspektive zugunsten des Patienteninteresses suspendiert werden kann, man sich damit zwar kurzzeitig in einer rechtlichen Grauzone bewegt, das Ganze aber sachgemäß dokumentiert, und so am Ende dann doch auf Basis des so gewonnenen Vertrauensverhältnisses eine Grundlage für eine erfolgreiche therapeutische Arbeit gelegt hat. Solche Arrangements können aber nur entstehen, sie lassen sich weder gezielt erzeugen, noch als best practice formulieren und reproduzieren.

Kontakt

Martin Feißt

Martin.Feisst@uni-wh.de

Beitrag vom 11.11.2020

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