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Virtual Reality und die Manipulation von Selbst- und Weltverhältnissen

Virtual Reality und die Manipulation von Selbst- und Weltverhältnissen

Wie ist es, die Welt durch die Augen eines anderen zu betrachten und was passiert, wenn man sich selbst aus der Perspektive eines anderen sieht?

Video: „VR als Empathie-Maschine? So siehst du die Welt aus den Augen eines anderen!“

Wie ist es, die Welt durch die Augen eines anderen zu betrachten? Was passiert, wenn man seinen Körper mit jemand anderem tauscht – und sich dann selbst konfrontiert? Welche Veränderungen auf der Ebene der Selbst- und Weltverhältnisse resultieren aus diesen Verkörperungserfahrungen? Steigt sogar die Chance zu gegenseitiger Einfühlung? Lässt sich hierdurch Empathie für fremde Menschen schulen?

Wie kein anderes Medium bietet Virtual Reality (VR) neue Möglichkeiten, die Wahrnehmung von Realität zu verändern. Diese Möglichkeiten ergeben sich hauptsächlich durch die Manipulation des Gefühls, sich in einer (virtuellen) Umgebung zu befinden sowie einen (virtuellen) Körper zu bewohnen. Dieses Gefühl wird als „presence“ (of being there) beschrieben.

Die Performance "The Machine to be Another" (TMTBA) zielt genau auf eine solche Manipulation ab, indem sie es ermöglicht, mit Hilfe von VR einen virtuellen Körpertausch durchzuführen. Dazu werden zwei Personen mit VR-Headsets ausgestattet, dessen Bildschirme das Live-Videobild des jeweils anderen Teilnehmers anzeigen. Dies ermöglicht es den Teilnehmenden sowohl den Raum als auch den fremden und eigenen Körper aus der Perspektive der anderen Person zu sehen. Das Künstlerkollektiv, das The Machine to Be Another zuerst entwickelte, verspricht, auf diese Weise den gegenseitigen Respekt und das Verständnis füreinander zu fördern.

In einem zweisemestrigen Seminar hatten wir es uns zum Ziel gemacht, diese Installation nachzubauen, um sie anschließend für die eigene Forschungsfragen zu nutzen. Im Wintersemester 2019 ist es uns in Kooperation mit der Akademie für Theater und Digitalität (Dortmund) gelungen, die VR-Installation in Eigenentwicklung (Unity Engine) zu reproduzieren. Noch im selben Semester haben wir die Performance dann mit 30 Personen durchgeführt. Als Datenmaterial haben wir neben Fragen zu Körperachtsamkeit und Empathievermögen mit allen 15 Paaren ausführliche Interviews zu ihrer gemeinsamen Erfahrung geführt. Im darauffolgenden Sommersemester 2020 haben wir das Datenmaterial dann gemeinsam ausgewertet und in eine erste Publikation zum Thema „Virtual Reality und Phänomenologie“ überführt.

Das in dieser Studie durchgeführte Krisenexperiment versuchte sozusagen, die Unterscheidung zwischen virtuellem und realem Körper zu überlisten. Die Studie selbst konzentrierte sich auf die (Un-)Fähigkeit der Teilnehmer, zwischen Bild und Wirklichkeit, zwischen realem Sein und virtueller Erscheinung zu unterscheiden. Mit dem Einsatz der TMTBA und einem qualitativen Forschungsansatz erhofften wir uns, einen näheren Einblick in die Entstehung alternativer Verkörperungserfahrungen sowie die damit entstehende Persistenz oder Manipulation dieser Körperwahrnehmungen.

Die bislang ausgewerteten empirischen Daten unserer Studie geben erste Antworten auf die Frage, wie virtuelle Verkörperungserfahrungen aus der Ich-Perspektive wahrgenommen werden. Insgesamt konnten wir drei Typen von Verkörperungserfahrungen rekonstruieren: 1) die temporäre Full-Body-Illusion, 2) die (rückkehrende) Verkörperungserfahrung im eigenen Körper sowie 3) die Erfahrung einer intermediären Verkörperung, die sich weder im eigenen noch im Körper des anderen anwesend fühlte.

In den meisten Fällen hatten die Teilnehmer zumindest für einige Momente das Gefühl, im Körper des anderen anwesend zu sein. Dieses Gefühl ging zumeist auch mit dem Gefühl der Entkörperung aus dem eigenen Körper einher. Diese Full-Body-Illusions hielten jedoch nicht lange an, da es immer wieder zu Desynchronisationen zwischen visuellem und tatsächlichem Körper kam oder weil die Teilnehmerin oder der Teilnehmer sich reflexiv vom Gesehenen distanzierte. Dieser Zusammenbruch der Illusion, diese Rückverschiebung zum eigentlichen Körper wurde dabei interessanterweise selbst als eine eigenständige denkwürdige Erfahrung beschrieben. Die dritte Variante, die von den Teilnehmenden erwähnt wurde, ist dabei von besonderem Interesse: Aufgrund des Wechsels der Verkörperung hatten einige der Testpersonen das Gefühl, völlig entkörperlicht zu sein. Manche Probanden berichten von der Erfahrung eines "körperlosen" Zustandes oder dem Gefühl, "zwischen" eigenem und fremden Körper präsent gewesen zu sein.

Allerdings zeigt sich auch: Nur in Einzelfällen – etwa dem eines Paares, das sich schon lange kennt – führt der Perspektiventausch zu Einsichten, die auch auf die Empathie für den anderen einzahlen. Die Bedingungen unter denen dies im Guten, wie im Schlechten gelingt (auch der Missbrauch dieser Technologien ist hier mitzudenken) werden wir in weiteren Studien ausführlicher untersuchen.

 

Kontakt:

Jonathan Harth

jonathan.harth@uni-wh.de

 

Publikationen:

Harth, Jonathan; Brücher, Maximilian; Gottschalk, Hanna; Hartwig, Ann-Danielle; Kost, Nele; Schäfermeyer, Bernhard (2020): “Who is this body?” - A Qualitative User Study on The Machine to be Another as an Innovative Embodiment Technology. In: Indo-Pacific Journal of Phenomenology. (in Review)

Harth, Jonathan (2018): Freiheit vom Hier und Jetzt. Wie Virtual Reality die Kontinuität von Körper und Selbst sabotiert. In: Freiheit und Internet. Ein Angebot des Grimme-Forschungskollegs an der Universität Köln. Online verfügbar: http://www.internet-freiheit.de/freiheit-vom-hier-und-jetzt-2/

Harth, Jonathan; Hofmann, Alexandra; Karst, Mike; Kempf, David; Ostertag, Anneliese; Schäfermeyer, Bernhard & Przemus, Isabell (2018): Different Types of Users, Different Types of Immersion. A User Study on Interaction Design and Immersion in Consumer Virtual Reality. In: IEEE Consumer Electronics Magazine, vol. 7, no. 4, pp. 36-43, July 2018. doi: 10.1109/MCE.2018.2816218

Beitrag vom 18.09.2020

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