Beitrag aus der Kategorie E&O forscht

Wie funktioniert Mitbestimmung in Aufsichtsräten?

Wie funktioniert Mitbestimmung in Aufsichtsräten?

Wie gelingt es gleichzeitig in der Opposition und Teil der Regierung zu sein? In einem DFG-Projekt haben wir uns anhand von Experteninterviews der Arbeit mitbestimmter Aufsichtsräte in DAX30- und MDAX-Unternehmen dieser Frage genährt. Das Ergebnis war eine breite Typologie unterschiedlicher Praxen – von konfliktorientiert bis hin zu raffinierten Formen der Kooperation.

Unternehmensmitbestimmung als Arrangement von Politik und Ökonomie. Eine Fallstudie im mitbestimmten Aufsichtsrat.

Unternehmensmitbestimmung, die Vertretung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Aufsichtsräten, ist eine Besonderheit der deutschen Wirtschaft, die es in dieser Form kaum anderswo gibt. Das Wissen über die Entscheidungspraxis dieser Gremien ist gleichwohl gering, ist es doch nur schwer, hier überhaupt Zugang zu erlangen. Aufbauend auf dem Projekt „High Performance Boards – Entscheidungsfindung in Aufsichtsräten“ des Reinhard-Mohn-Instituts (vormals ICG), sind wir der Frage nachgegangen, welche Formen der (nicht)geteilten Praxis sich in mitbestimmten Aufsichtsräten zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretenden finden lassen. Dabei konnte auf Datensätze zu knapp dreißig Gremien aus in DAX30 und MDAX notierten Unternehmen zurückgegriffen werden. Über 180 Interviews mit Aufsichtsratsvorsitzenden und deren Stellvertreterinnen und Stellvertretern, mit Aktionärsvertretenden sowie gewerkschaftlichen und betrieblichen Arbeitnehmervertretenden wie auch ein verschiedenste Branchen umfassendes Sampling bildeten die Basis für die Erarbeitung einer Typologie der Aufsichtsratsarbeit in den größten deutschen Unternehmen. Die vielleicht wichtigste Ressource jedoch war die theoretische Anlage des Projekts: Aufsichtsratsarbeit wurde nicht als Frage der betriebswirtschaftlichen Effizienz oder der Macht aufgefasst, sondern als Entscheidungsfindung unter Bedingungen der Unsicherheit, die sowohl Probleme der Verteilung, der Macht wie auch der Effizienz und der Marktpositionierung aufwirft.

Entscheidungsfindung in Aufsichtsräten ist nicht eindimensional, sondern vielmehr mehrdimensional, eine polykontexturale Praxis, die sich nur verstehen lässt, indem geschaut wird, wie die unterschiedlichen Logiken (Wirtschaft, Hierarchie, (Mikro-)Politik, Gruppenloyalitäten und anderes) miteinander in Beziehung gesetzt werden.

Als Ergebnis der Studie entstand eine komplexe Typologie, die mögliche Arrangements aufzeigt, wie die inkommensurablen Logiken ineinander übersetzt werden können. Wie werden die Unterschiede zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite reaktualisiert und wie wird gleichzeitig Gemeinsamkeit hergestellt? Wie gelingt es, gleichzeitig mit- wie auch gegeneinander zu arbeiten, in der Opposition und Teil der Regierung zu sein?

Tatsächlich zeigten sich unterschiedlichste Muster, die teilweise stark von der jeweiligen Branche sowie dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad abhängen. Der, so könnte man sagen, einfache Typ, der sich stärker in der Dienstleistungsbranche finden ließ, setzte auf einen mehr oder weniger offen ausgetragenen Konflikt. Es war klar, dass man nicht gemeinsam arbeitete und dass die Arbeitnehmervertretenden gleichzeitig auf ihre eigene Agenda konzentriert sind. Unternehmensführung, das ist die Aufgabe der anderen. Doch gleichzeitig war man sich in dieser Hinsicht einig. Selbst in konfliktorientierten Gremien war beiden Seiten klar, dass auch unangenehme Entscheidungen getroffen werden müssen. Die Arbeitnehmervertretenden klammerten diese Themen dann ein, zogen sich zurück und ließen das Management machen. Den eigenen Anteil, suchte man dann durch „Deals“ zu sichern. Das Gegeneinander war also ein Miteinander, das durch eine Art Sphärentrennung ermöglicht wurde.

Eine explizitere Form der Kooperation ließ sich im produzierenden Gewerbe beobachten, wo sich über die Semantik des „Betriebs“ eine Grundlage zur gemeinsamen Debatte ergab. Blieb in vielen Fällen die Sphärentrennung so auch erhalten, so entstand doch ein Bereich der geteilten Praxis.

Deutlich komplexer wurde dieser Form in einigen Unternehmen der Chemie- und Pharmaindustrie, in denen die Figur der „Internen“ von besonderer Bedeutung war. Die Branche und das Unternehmen zu kennen schuf einen Raum, der Externe (etwa Anteilseignervertretenden von Kapitalfonts) ausschloss. Die Differenz zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignerfragen wurde somit eine, die überwiegend von den „Internen“ geklärt wurde.

In nur wenigen Unternehmen, vor allem wissensintensiven Dienstleistungsunternehmen oder solchen, die von Gründerfiguren oder Gründerfamilien geprägt waren, trat schließlich die politische Differenz der beiden Seiten noch mehr in den Hintergrund. Die Arbeitnehmervertretenden wurden hier weitgehend Quelle der Information, ohne eine politische Position gegenüber den Anteilseignerinnen und Anteilseignern und Vorständen zu beziehen.

Mitbestimmung, unter dem Vorzeichen der Polykontexturalität betrachtet, zeigt so ein deutlich differenziertes Bild, als würde man sie nur als Macht- oder Wirtschaftsproblem sehen. Betrieb, Organisationsgrad, Loyalität und Interessen können eine entscheidende Rolle spielen. Wie sich Unternehmensmitbestimmung konkret gestaltet und welche Probleme sie bearbeitet, zeigt sich so immer in einer komplexen Dynamik, die auf eine schon immer mehrdimensional zu fassende Lage reagiert. 

 

Kontakt:

Till Jansen

till.jansen@uni-wh.de

 

Publikationen:

Jansen, Till (2015): Anerkennung oder komplexe Verhältnisse? Interpretative Mitbestimmungsforschung jenseits von Macht und Partizipation In: ZQF, Zeitschrift für qualitative Forschung 16(2), S. 279‒297

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Jansen, Till (2012): Unternehmensmitbestimmung als Arrangement von Politik und Ökonomie. Eine Fallstudie im mitbestimmten Aufsichtsrat In: Soziale Welt  63(2), S. 163-181

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Jansen, Till / Vogd, Werner (2013): Polykontexturale Verhältnisse – disjunkte Rationalitäten am Beispiel von Organisationen. In: Zeitschrift für theoretische Soziologie, 2(1), S.  111-126

Jansen, Till (2014): Mitbestimmung als institutionalisiertes Scheitern. In: John, René / Langhof, Antonia: Scheitern – ein Desiderat der Moderne?. Opladen: Springer VS, S. 93 - 117

Jansen, Till (2013): Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Wiesbaden: Springer VS

Beitrag vom 27.10.2020

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