Beitrag aus der Kategorie E&O forscht

Täter, Patient, Mensch – im Maßregelvollzug das (Un)Mögliche leisten

Täter, Patient, Mensch – im Maßregelvollzug das (Un)Mögliche leisten

Im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts "(Re-)Sozialisierung im Maßregelvollzug" untersuchen wir auf Basis teilnehmender Beobachtung und Interviews mit Patienten und Personal, ob und wie die Rehabilitation psychisch kranker Straftäter unter Voraussetzung komplexer, einander widersprechender gesellschaftlicher wie organisationaler Anforderungen gelingen kann.

Zur Seite des Forschungsprojekts „(Re-)Sozialisierung im Maßregelvollzug“

Eine Maßregelvollzugsklinik ist zugleich Krankenhaus, wie auch Gefängnis, ein Lebensraum vulnerabler Menschen wie auch der Unort, an dem Menschen untergebracht werden, vor denen die Gesellschaft (vermeintlich) geschützt werden muss. Dennoch hat die „Maßregel der Besserung und Sicherung“ (§63 StGB) die Resozialisierung zum Ziel, also die Wiedereingliederung psychisch kranker Rechtsbrecher in die Gesellschaft. Unweigerlich treten hiermit ethische Spannungslagen auf. Was zählt mehr, die Entwicklungschancen der Insassen oder die Sicherheitsbedürfnisse der Bürger? Was ist, wenn sich Zwangsmaßnahmen als pädagogisch oder therapeutisch wirksam erweisen, rechtlich aber eigentlich nicht zulässig sind? Inwieweit können (oder müssen) Therapeuten in Allianz mit dem Patienten gehen, ohne sich gegenüber anderen schuldig zu machen? Wie geht man als Chefarzt einer forensischen Einrichtung geschickt mit dem Bürgermeister und der Presse einer Ortschaft um, in der (ehemals) gefährliche Patienten den Umgang mit Freiheit zu erproben beginnen? Hilft das ganze Unterfangen überhaupt jedem Patienten oder bewirkt es zuweilen auch das Gegenteil? Wie kann man überhaupt valide feststellen, ob eine Person (noch) gefährlich ist?

Diese und andere Fragen untersuchen wir in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt („Re-)Sozialisierung im Maßregelvollzug“. Am Anspruch der Resozialisierung der Untergebrachten, also dem Versuch, in einem hochgradig organisierten Prozess das Individuum wieder gesellschaftsfähig zu machen, wird die dichte Verschränkung von Individuum, Organisation und Gesellschaft offensichtlich. Zu „Veränderungen“ der Person kommt es dabei nicht allein aufgrund mehr oder weniger gezielter therapeutischer Eingriffe, sondern in hohem Maße durch die jahrelange Sozialisation in einem stark reglementierten geschlossenen Setting. Bislang bleibt jedoch die Frage offen, wie Resozialisierung unter Bedingungen einer organisierten Krankenbehandlung realisiert werden kann und welche sozialisierende „Normalität“ sich in einer solchen Organisation letztlich einstellt. Um hier zu fundierten Erkenntnissen zu kommen, wird in einem wissenssoziologisch-qualitativen Forschungsdesign die Praxis von sechs Maßregelvollzugskliniken vergleichend untersucht, wobei auch die länderspezifische Ausgestaltung des Maßregelvollzugs mit berücksichtigt wird.

 Mit der speziell im Hinblick auf Organisationen entwickelten Kontexturanalyse steht eine methodologische Konzeption zur Verfügung, die eine solch chronisch paradoxe Einrichtung in ihren Widersprüchen zu rekonstruieren vermag, ohne dabei – wie bisherige Ansätze – einem soziologischen oder biologischen Reduktionismus verfallen zu müssen. Durch die Einbeziehung aller am therapeutischen Prozess beteiligten Personengruppen (Patienten, Pfleger, Therapeuten, Sozialarbeiter, Psychologen) kann die Resozialisierung und ferner die (Milieu-)Therapie als eine organisierte Praxis rekonstruiert werden.

 

Kontakt:

Martin Feißt

martin.feisst@uni-wh.de

Beitrag vom 26.10.2020

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