Department für Psychologie und Psychotherapie

    Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie IV

    Der Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie IV beschäftigt sich unter Leitung von Professor Dr. Stefan Westermann in Lehre und Forschung mit den Ursachen und der Behandlung psychischer Störungen und greift dafür auf verhaltenstherapeutische, psychodynamische und (neo-)humanistische Perspektiven zurück. Der Forschungsschwerpunkt des Lehrstuhls liegt auf interpersonellen und intersubjektiven Mechanismen, die der Entstehung, Aufrechterhaltung und psychotherapeutischen Veränderung psychischer Störungen zugrunde liegen und sich dyadisch über zwei Personen hinweg erstrecken (z.B. Therapeut/in-Patient/in-Dyade). Dabei werden auch Methoden der formalen Modellierung und empirisch-informierten Simulation eingesetzt, um die Komplexität dieser psychopathologischen und -therapeutischen Prozesse abbilden und generativ erklären zu können (z.B. Agent-Based Modeling). Als empirische Zugänge werden Methoden wie Experience Sampling im Alltag, Videoanalysen zwischenmenschlicher Interaktionen (z.B. Therapiesitzungen) und partizipative Simulationsparadigmen im Labor eingesetzt.

    Im Folgenden wird in aller Kürze die grundlagenwissenschaftliche Perspektive skizziert, die die Forschungsprojekte am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie IV prägt.

    Motive

    Die Forschung am Lehrstuhl wird durch eine instrumentelle Perspektive geprägt. Dementsprechend spielen Prozesse des Erlebens und Verhaltens, die es Menschen ermöglichen ihre Umwelt aktiv zu gestalten, eine wichtige Rolle. Diese motivationalen Prozesse haben die langfristige Befriedigung von psychologischen Bedürfnissen wie Autonomie, Bindung und Selbstwert sowie deren Schutz vor Verletzung zum Ziel. Wir bezeichnen solche, das Erleben und Verhalten organisierende Prozesse als Motive.

    Beziehungen als Umwelten

    Der Teil der Umwelt, der für viele psychologische Bedürfnisse wie Bindung und Autonomie zentral ist und damit auch in der Forschung des Lehrstuhls im Mittelpunkt steht, sind Beziehungen. Einerseits handelt es sich um interpersonelle Beziehungen, die ein Mensch durch motiviertes Erleben und Verhalten zu anderen Menschen formt, wie beispielweise Freundschaften, hierarchische Beziehungen am Arbeitsplatz, und auch TherapeutIn-PatientIn-Beziehungen. Andererseits geht es um intrapsychische Beziehungen, die ein Mensch mit sich selbst pflegt, wie beispielsweise Selbstliebe, Selbstkritik oder Selbsterforschung. Im Lehrstuhl nehmen wir eine ökologische Perspektive ein, in der Beziehungen als Umwelt-Nischen aufgefasst werden, in denen psychologische Bedürfnisse befriedigt aber auch verletzt werden. Eine Freundschaft stellt sich aus dieser Sicht als mutualistische Beziehung dar, in der beide jeweils das Bindungsbedürfnis des jeweils anderen befriedigen. Diese motivationale, ökologische Betrachtungsweise der Dynamik von intrapsychischen und interpersonellen Beziehungen bestimmt einen Großteil unserer Forschungsprojekte.

    Formale Modellierung interpersoneller Prozesse

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    Die Erfassung der Komplexität zwischenmenschlicher Dynamik – die sich aus den Annäherungs- und Vermeidungsmotiven zweier Individuen in dyadischer Interaktion ergibt und sich auf mehreren Zeitebenen simultan entfaltet – ist eine wissenschaftliche Herausforderung. Im Einklang mit der Forderung, die Komplexität in der psychologischen Forschung durch formale Modellierung zu erfassen, ist es das Ziel dieses Projekts, die zugrundeliegenden Mechanismen der Entstehung und Aufrechterhaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen mit Hilfe der evolutionären Spieltheorie zu untersuchen.

    Nach der Formalisierung interpersoneller Situationen auf der Grundlage der affiliativen Motive der Interaktionspartner wurde ein relationaler Zustandsraum konstruiert, der die Beziehungsmöglichkeiten widerspiegelt, die den Interaktionspartnern im momentanen Zustand ihrer zwischenmenschlichen Beziehung zur Verfügung stehen. Dies ermöglicht die Modellierung der Entwicklung einer zwischenmenschlichen Beziehung als eine Kurve durch den relationalen Raum, deren Weg durch positive und negative Verstärkung bestimmt wird.

    Abhängig von den Motiven beider Interaktionspartner ergeben sich drei qualitativ unterschiedliche interpersonelle Dynamiken: (1) globale Stabilität mit nur einem Beziehungsattraktor (z.B. eine interpersonelle Beziehung reiner Freundlichkeit auf lange Sicht), (2) Bistabilität mit zwei sich gegenseitig ausschließenden Beziehungsattraktoren (z.B. entweder pure Freundlichkeit oder pure Distanz) und (3) Zyklizität mit periodischen Bahnen im Beziehungsraum (z.B. Oszillation zwischen Freundlichkeit und Distanz). Das formale Modell, das sich auf empirisch gestützte psychologische Konstrukte stützt, erzeugt das bekannte Muster der interpersonellen Komplementarität. Darüber hinaus haben sich neue interpersonelle Muster ergeben, die auf einige zugrundeliegende Mechanismen der interpersonellen Aufrechterhaltung von Psychopathologie hinweisen könnten.

    Kooperationspartner: Dr. Sven Banisch, KIT Karlsruhe

    Westermann, S., & Banisch, S. (2024). A formal model of interpersonality. Clinical Psychological Science. doi:10.1177/21677026241229663

    Computational Clinical Psychology and Psychotherapy Network (ccpp.network)

    Ein Hackathon während eines ccpp.network-Treffens (Symbolbild)

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    Die Kluft zwischen der Forderung nach formaler Modellierung in den psychologischen Disziplinen (z. B. Fried, 2020; Fried & Robinaugh, 2020; Guest & Martin, 2021; Haslbeck et al., 2021; Robinaugh et al., 2021; Roefs et al., 2022; Vallacher et al., 2015) und aktuell publizierten formalen Modellen ist groß. Insbesondere formale Modelle der psychologischen Mechanismen, die der Entstehung, Aufrechterhaltung und Aufrechterhaltung und Behandlung von psychischen Störungen zugrunde liegen, sind selten. Das übergreifende Ziel unseres kollaborativen wissenschaftlichen Netzwerks ist es, die Grenzen der Forschung in der klinischen Psychologie und Psychotherapie zu erweitern, indem theoriegeleitete computergestützte Ansätze wie die agentenbasierte Modellierung eingesetzt werden. In unserem interdisziplinären Forschungsnetzwerk wird Expertise in formaler Modellierung und empirisch informierter Simulation, computational modeling, statistischer Modellierung, Persönlichkeitspsychologie, interpersoneller Theorie, experimenteller Psychopathologie, kognitiver Verhaltenstherapie, psychodynamischer Therapie und systemischer Therapie miteinander verwoben (DFG WE 5290/2-1). Website: https://ccpp.network

    Kooperationspartner: Dr. Sven Banisch, KIT Karlsruhe

    Interpersonelle Erwartungen im Alltag

    Zwischenmenschliche Interaktion (Symbolfoto)

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    Dieses Projekt zielt darauf ab, den Zusammenhang zwischen interpersonellen Erwartungen, interpersonellen Motiven, interpersonellen Problemen und psychischen Störungen wie depressiven Störungen zu untersuchen. Mithilfe eines neuartigen Ansatzes des Experience Sampling – der prospektiven Experience Sampling Method (pESM) – werden erwartete zwischenmenschliche Situationen (einschließlich des erwarteten emotionalen Erlebens) erfasst und mit einer regelmäßigen retrospektiven Bewertung der tatsächlichen zwischenmenschlichen Situation verglichen. Unterschiede zwischen dem erwarteten und dem tatsächlichen Erleben (sogenannte Erwartungsverletzungen) könnten zur Aufrechterhaltung psychischer Probleme beitragen, insbesondere, wenn Erwartungsverletzungen nicht mit Lernen einhergehen. 

    In einer Pilotstudie konnte gezeigt werden, dass Teilnehmende mit höherer subklinischer Depressivität dazu neigten, stärkere, stabilere und weniger genaue negative Erwartungen zu haben, und dass negative Erwartungen den nachfolgenden negativen Affekt vorhersagten. Darüber hinaus gingen besser als erwartete Interaktionen einer Verringerung der negativen Erwartungen voraus. Trotz einiger Einschränkungen zeigt die Studie, dass der pESM-Ansatz geeignet ist, zwischenmenschliche Erwartungen in vivo zu untersuchen. In einem bewilligten DFG-Sachbeihilfe-Projekt werden interpersonelle Erwartungen im Alltag im Rahmen von Depression nun genauer untersucht (DFG WE 5290/1-1).

    Kooperationspartner: Dr. Thies Lüdtke, Leuphana Universität, Lüneburg; Prof. Chris Hopwood, Universität Zürich; Dr. Tobias Kube, Universität Göttingen

    Lüdtke, T. & Westermann, S. (2023). Negative expectations regarding interpersonal interactions in daily life are associated with subclinical depressive symptoms in a student sample: A prospective experience sampling study. Motivation and Emotion, 47, 125–136. doi:10.1007/s11031-022-09985-8

    Interaktive psychologische Paradigmen

    Screenshot des MovES-Paradigmas

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    In einem Pilotprojekt mit einem Masterstudenten im Bereich "Zeitabhängige Medien" (Arne Sibilis) wurde ein partizipatorisches psychologisches Paradigma entwickelt, bei dem die Teilnehmenden nonverbal mit einem virtuellen Gegenüber interagieren, um zwischenmenschliche Verhaltensweisen wie "Kontrolle ausüben", "geführt werden", "autonom sein" und "Raum gewähren" zu artikulieren, aber auch aus der Perspektive des Gegenübers zu erleben. So sind dynamische, wechselseitige Interaktionssequenzen möglich, in denen der/die menschliche Teilnehmer:in  in eine Beziehung zu einem in Echtzeit simulierten Gegenüber tritt. Eine empirische Pilotstudie mit N=41 zeigte, dass die Teilnehmenden tatsächlich ein immersives Erlebnis entwickeln und auch emotional reagieren, wenn z.B. ihre Autonomieabsichten durch das virtuelle Gegenüber blockiert werden.  Derzeit wird eine neue Version des MovES-Paradigmas entwickelt, die (dis-)affiliative zwischenmenschliche Verhaltensweisen wie "freundlich sein" oder "feindselig sein" zulässt. Eine Pilotstudie ist im Gange, um die psychometrischen Eigenschaften der affiliativen Version des MovES-Paradigmas empirisch zu testen.

    Westermann, S. & Sibilis, A. (2022). Emergence and assessment of interpersonal experience and behavior in a nonverbal, generative, game-like paradigm. Acta Psychologica, 229C, 103689. doi:10.1016/j.actpsy.2022.103689

    Formale Modellierung und empirisch-informierte Simulation von Motiv-Dynamik

    Screenshot der Benutzeroberfläche der Motiv-Simulation

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    Innerhalb eines Agenten-basierten Modellierungs-Frameworks (ABM) haben wir Motive als Agenten modelliert, die sowohl auf ihre (interpersonelle) Umgebung als auch intrapsychisch auf andere Motive innerhalb der Person gemäß einer einfachen Reihe von Regeln einwirken. Die empirisch informierte Motivdynamik wurde anschließend simuliert. Wir haben erwartet, dass die Simulationen die theoretisch vorhergesagten Motivkonfliktmuster zeigen und mit den empirischen Daten übereinstimmen. 

    Mit diesem Projekt wollen wir zeigen, dass die Anwendung von ABM auf intrapsychische Prozesse möglich und gewinnbringend ist. Motive, die der Bedürfnisbefriedigung dienen und dazu Erleben und Verhalten orchestrieren, können als autonome Agenten betrachtet werden, die lokale Informationen nach einfachen Regeln nutzen. Die sich daraus ergebenden dynamischen Muster von Motivinteraktionen ähneln den Vorhersagen der klinisch-psychologischen Literatur (approach-approach-conflicts; Grawe, 1998) und hängen entscheidend von der Motivstruktur einer Person ab. Die vorläufige empirische Evaluierung des Modells war erfolgreich. Insbesondere sagten die Simulationsergebnisse des Modells unabhängige Maße besser vorher als die Eingangsparameter des Modells. 

    Agentenbasierte Modelle von intrapsychischen Prozessen wie z.B. Motiven sind ein Ansatzpunkt für eine computational clinical psychology und könnten andere Disziplinen hinsichtlich motivationaler Aspekte informieren. So könnten beispielsweise Modelle von Meinungsdynamik, die die Befriedigung und den Schutz des Selbstwertgefühls oder der Autonomie einbeziehen, realistischer und aussagekräftiger sein als Modelle, die solche psychologischen Prozesse nicht berücksichtigen.

    Kooperationspartner: Dr. Sven Banisch, KIT Karlsruhe

    Westermann, S., Berger, T., Steiner, F., & Banisch, S. (2017). Motive conflicts: an empirically informed agent-based modelling study. In Proceedings of the 13th Conference of the European Social Simulation Association. https://www.researchgate.net/publication/321491004

    Frühere Forschungsprojekte und -schwerpunkte von Mitgliedern des Lehrstuhls

    • Empirische Motiv-Netzwerke mithilfe von Experience Sampling
    • Internet-basierte Interventionen
    • Emotions-Dynamik und -Regulation im Kontext psychotischer Störungen
    • Emotionsregulation und Schlaf
    • Motiv-orientierte Internet-basierte Selbsthilfe
    • Therapeutische Beziehungsgestaltung im Kontext psychotischer Störungen

    Kooperationen

    • Dr. Sven Banisch, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Deutschland
    • Dr. Thies Lüdtke, Leuphana Universität Lüneburg
    • Prof. Chris Hopwood, Universität Zürich
    • Dr. Tobias Kube, Universität Göttingen
    • Prof. Dr. Thomas Berger, Universität Bern

    Die Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie IV trägt im Rahmen des Bachelorstudiengangs „Psychologie“ und des Masterstudiengangs „Psychologie mit Schwerpunkt Klinische Psychologie und Psychotherapie“ u.a. zu folgenden Veranstaltungen bei:

    • Vorlesung Einführung in die Klinische Störungs- und Verfahrenslehre I (Bachelor)
    • Ursachen und Behandlungen psychischer Störungen II (Bachelor)
    • Vorlesung Psychische Störungen und ihre Behandlung bzw. Spezielle Störungs- und Verfahrenslehre I (Master)
    • Vorlesung Spezielle Störungs- und Verfahrenslehre II (Master) 
    • Berufsqualifizierende Tätigkeit II – Repetitorium (Master)
    • Forschungskolloquium
    Erst- und Letztautorenschaften von Mitgliedern des Lehrstuhls
    Koautorenschaften von Mitgliedern des Lehrstuhls

    Unser Team

    Die Universität Witten/Herdecke ist durch das NRW-Wissenschaftsministerium staatlich anerkannt und wird – sowohl als Institution wie auch für ihre einzelnen Studiengänge – regelmäßig akkreditiert durch: