Kontexturanalyse, Kybernetik und rekonstruktive Sozialforschung
Projektübersicht
Dieses Forschungsprojekt widmet sich der systematischen Weiterentwicklung und Anwendung der Kontexturanalyse als innovative Methode der qualitativen Sozialforschung. Ausgehend von der Theorie der Polykontexturalität Gotthard Günthers und in Verbindung mit systemtheoretischen Ansätzen zielt das Projekt auf die Überwindung eines zentralen Defizits: die bislang unzureichende Methodologisierung des Verhältnisses von Theoriearbeit und empirischer Forschung in der soziologischen Systemtheorie.
Forschungshintergrund
Die Abstraktion der Systemtheorie Luhmanns macht nur Sinn, wenn Systeme als empirische Gegenstände begriffen werden, die zwar als relationale Gebilde nicht unmittelbar sichtbar und greifbar sind, aber prinzipiell rekonstruierbar bleiben. Sowohl im Sinne der eigenen Theorieentwicklung als auch im Kontext einer zunehmend Drittmittel-getriebenen Forschungslandschaft hat sich die soziologische Systemtheorie bislang wenig um eine Methodologisierung ihres Verhältnisses von Theoriearbeit und empirischer Forschung bemüht.
In den letzten 20 Jahren hat sich in der qualitativen und rekonstruktiven Sozialforschung vermehrt die Frage gestellt, wie sich polyphone, polykontexturale und in ihren Sinnbezügen mehrdeutige Verhältnisse erforschen lassen. Hier setzt unser Projekt an: Mit der Kontexturanalyse entwickeln wir einen methodologischen Zugang, der von Mehrdeutigkeiten ausgehend Systemdynamiken rekonstruiert.
Theoretische Grundlagen
Im Zentrum unserer methodologischen Überlegungen steht die Theorie der Polykontexturalität von Gotthard Günther. Mit den Begriffen der Kontextur und der transjunktionalen Operation wird eine schlanke, aber gleichzeitig hoch abstrakte Metatheorie vorgeschlagen, die eine Analyse komplexer sozialer Prozesse ermöglicht.
Die Kontexturanalyse greift zudem das in der Linguistik und den Literaturwissenschaften zunehmend an Prominenz gewinnende Konzept der Polyphonie (BACHTIN) auf, um zu zeigen, wie Protokolltexte im Sinne einer mehrwertigen Hermeneutik aufgeschlossen werden können. Diese theoretische Perspektive ermöglicht es, die Kopräsenz unterschiedlicher Sprecher:innenpositionen, institutioneller Logiken sowie die hiermit einhergehenden gebrochenen Selbst- und Weltverhältnisse methodologisch zu erfassen.
Forschungsfelder
Die Kontexturanalyse hat sich in verschiedenen Forschungsfeldern als besonders fruchtbar erwiesen:
- Organisations- und Managementforschung: Analyse der Verschränkung verschiedener institutioneller Logiken in formalen Organisationen
- Erforschung religiöser Selbst- und Weltverhältnisse: Untersuchung komplexer spiritueller Praktiken und ihrer Aneignung in westlichen Kontexten
- Psychiatrische Praxis: Erschließung der Mehrdeutigkeit in den Äußerungen psychisch erkrankter Menschen
- Familienunternehmen: Analyse der Verschränkung von Familienlogik und Unternehmenslogik
Diese empirischen Anwendungen zeigen, dass die Kontexturanalyse besonders dort ihre Stärke entfaltet, wo konventionelle sozialwissenschaftliche Methoden an ihre Grenzen stoßen: bei der Analyse von Mehrdeutigkeit, Paradoxie und der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Sinnhorizonte.
Die Kontexturanalyse eröffnet damit nicht nur neue Perspektiven für die empirische Sozialforschung, sondern bietet auch einen fruchtbaren Anschluss an aktuelle Diskussionen in der Wissenschaftstheorie und Methodologie: Sie ermöglicht die empirische Erforschung komplexer Reflexionsverhältnisse und multipler Rationalitäten in modernen Gesellschaften, sie überwindet die oft künstliche Trennung zwischen qualitativer und quantitativer Forschung durch ihren Fokus auf formale Relationen und sie stellt eine Brücke zwischen systemtheoretischen Ansätzen und empirischer Forschung her.
Ausgewählte Publikationen
- Jansen, Till; Vogd, Werner (2022): Kontexturanalyse: Theorie und Methode einer systemischen Sozialforschung. Springer VS.
- Vogd, Werner; Harth, Jonathan (2019): Kontexturanalyse: eine Methodologie zur Rekonstruktion polykontexturaler Zusammenhänge, vorgeführt am Beispiel der Transgression in der Lehrer/in-Schüler/in-Beziehung im tibetischen Buddhismus. FQS Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 20, No. 1, Art. 21.
- Jansen, Till; von Schlippe, Arist; Vogd, Werner (2015): Kontexturanalyse – ein Vorschlag für rekonstruktive Sozialforschung in organisationalen Zusammenhängen. FQS Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 16, No. 1, Art. 4.
- Vogd, Werner; Harth, Jonathan; Ofner, Ulrike (2015): Doing religion im Phowa-Kurs: Praxeologische und reflexionslogische Studien zum "bewussten Sterben" im Diamantweg-Buddhismus. FQS Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 16, No. 3, Art. 17.
- Jansen, Till; Feißt, Martin; Vogd, Werner (2020): "Logische Kondensation" – Zur Interpretation von Mehrdeutigkeit in der Kontexturanalyse am Beispiel eines schizophrenen Patienten in der forensischen Psychiatrie. FQS Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 21, No. 3, Art. 13.
- Vogd, Werner; Feißt, Martin; Jansen, Till (2021): Wirkmächtigkeit therapeutischer Arrangements im Zwangskontext – eine kontexturanalytische Untersuchung zur Therapie eines pädophilen Mannes im Maßregelvollzug. FQS Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 22, No. 3, Art. 18.
- Vogd, Werner; Harth, Jonathan (2023): Das Bewusstsein der Maschinen – die Mechanik des Bewusstseins. Mit Gotthard Günther über die Zukunft künstlicher und menschlicher Intelligenz nachdenken. Open Access, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Weitere Informationen
- Laufzeit: laufend
- Verantwortlich: Lehrstuhl für Soziologie
Projektleitung
Univ.-Prof. Dr.
Werner Vogd
Lehrstuhlinhaber
Fakultät für Gesundheit (Department für Humanmedizin) | Lehrstuhl für Soziologie
Alfred-Herrhausen-Straße 50
58455 WittenRaumnummer: C-2.329