Rund 100.000 Kinder in Deutschland leben mit einer lebensverkürzenden Erkrankung
Die Universität Witten/Herdecke hat eine Methode entwickelt, die erstmals verlässliche Zahlen zur Planung der Hospiz- und Palliativversorgung von jungen Menschen liefert.

Seit Jahrzehnten wird darüber spekuliert, wie viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland mit einer lebensbedrohlichen oder lebensverkürzenden Erkrankung leben. Verlässliche Angaben fehlten bisher. Forschende der Universität Witten/Herdecke (UW/H) haben diese Lücke nun geschlossen. Unter Leitung von Dr. Larissa Kubek und Prof. Dr. Boris Zernikow entwickelten sie das „Descriptive Framework for Assessing Epidemiologic Cross-National Transferability“ – kurz FACT. Eine Methode, mit der es nun möglich ist, einen Überblick über die Anzahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu bekommen.
In Norwegen, Frankreich oder Großbritannien können solche Daten aus staatlichen Gesundheitsdatenbanken gewonnen werden. In Deutschland hingegen ist die Auswertung extrem schwierig. Das hat mehrere Gründe: Kinder mit palliativem Versorgungsbedarf leiden häufig an Seltenen Erkrankungen. Viele dieser Erkrankungen können zum frühen Tod führen, haben jedoch Unterformen, die nicht lebensverkürzend sind. So gibt es zum Beispiel bei der seltenen, blasenbildenden Hautkrankheit „Epidermolysis Bullosa“ Varianten, die das Leben kaum beeinträchtigen – und andere, die mit einer deutlich verkürzten Lebenserwartung einhergehen. Für die Berechnung der Prävalenz, also der Gesamtzahl der Betroffenen, dürfen daher nicht alle Patient:innen mit dieser Seltenen Erkrankung gezählt werden, sondern nur die mit den schweren Formen. Doch in Deutschland fehlen Datenbanken oder Register, die eine solche Differenzierung ermöglichen. Patient:innen mit dieser Seltenen Erkrankung werden in den Statistiken nicht differenziert genug aufgeführt, um die lebenslimitierend betroffenen Kinder sicher zu identifizieren.
Hinzu kommt: Die vorhandenen Krankendaten sind über viele Institutionen verstreut – von Krankenkassen über Krankenhäuser bis zu Arztpraxen. Sie beruhen meist auf Abrechnungsdaten, die nur schwer zusammenzuführen sind. Für eine vollständige und valide Auswertung wäre aber eine lückenlose Zusammenführung nötig. Bislang ein nahezu unmögliches Unterfangen.
Neue Methode bringt Klarheit
Das Projekt FACT prüft nach einem vorgegebenen Schema, ob zwei Länder in ihren Versorgungsstrukturen sowie bestimmten verwandten und statistisch sicher erfassten Erkrankungsdaten vergleichbar sind. Wenn das der Fall ist, können verlässliche Prävalenzdaten aus dem Land A, die in einem zweiten Land B nicht verfügbar sind, von Land A nach Land B übertragen werden – ohne, dass für das Land B aufwendig eigene Prävalenzdaten erhoben werden müssen.
In Kooperation mit Prof. Lorna Fraser vom King’s College London testete das Team der Universität Witten/Herdecke die Übertragungsmethode FACT erstmals praktisch. Sie überprüften zunächst ob England (Land A) und Deutschland (Land B) auf Grund vorhandener Gesundheitsdaten als ähnlich zu betrachten sind: das sind sie. Dann nahmen sie die detaillierten Prävalenzdaten aus England (Land A) und übertrugen sie auf Deutschland (Land B). Das Resultat: 2022 lebten hierzulande 103.566 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 19 Jahre mit einer lebenslimitierenden Erkrankung – das entspricht 65,30 Betroffenen pro 10.000. Für 2030 wurde auch die englische Prognose auf Deutschland übertragen. Dann werden zwischen 107,934 und 138,817Fälle in Deutschland zu erwarten sein.
„Unsere Methode FACT spart Ressourcen und liefert eine solide Basis für die Planung der Gesundheitsversorgung“, sagt Kubek. Zernikow ergänzt: „Die neuen Zahlen helfen uns, Versorgungslücken gezielt zu schließen – etwa in der Palliativversorgung und Hospizarbeit rund um die Geburt oder beim Übergang in die Erwachsenenmedizin.“
Für die Forschenden der UW/H ist FACT nicht nur ein Werkzeug für Deutschland, sondern ein Modell mit internationaler Perspektive. „Viele Länder stehen vor denselben Problemen bei der Erfassung von lebensbedrohlichen und lebensverkürzenden Erkrankungen“, sagt Kubek. „FACT zeigt, dass sich solide Daten auch dort generieren lassen, wo Register und Datenbanken fehlen.“
Weitere Informationen:
Die wissenschaftliche Arbeit ist unter dem Titel “Introducing the Descriptive Framework for Assessing Epidemiologic Cross-National Transferability (FACT): Application to Extrapolating Pediatric Life-Limiting Condition Prevalence between two European Countries” im Journal of Palliative Medicine erschienen:
( https://www.liebertpub.com/doi/10.1177/10966218251376899 ).
Autor:innen waren Dr. Larissa Kubek, PD Dr. Julia Wager, Prof. Patrick Brzoska, Prof. Lorna Fraser und Prof. Boris Zernikow.
Kooperationspartner sind: PedScience, der Deutsche Kinderhospizverein (Marcel Globisch), der Deutsche Hospiz- und Palliativverband e. V. (DHPV) (Benno Bolze), die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (Heiner Melching, Andreas Müller, Claudia Bausewein), die Deutsche Kinderpalliativstiftung (Thomas Sitte) und der Bundesverband Kinderhospiz (Franziska Kopitzsch).
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