Sinnesphysiologie und -psychologie, mit besonderer Berücksichtigung der sozialen Perzeption
- Beiträge zu einer ganzheitlichen Sinneslehre. Die traditionelle Sicht der Sinnesphysiologie interpretiert den Sinnesprozess als eine rein physikalisch-physiologische Prozesskaskade, die zuletzt im Gehirn die Sinneserlebnisse als subjektive Erlebnisse erzeugt. Demgegenüber erarbeitet die Seniorprofessur im Einklang mit modernen Ansätzen von „extended Mind“, „Embodiment“, Informationstheorie und Rudolf Steiners Sinneslehre eine neue, integrativ psycho-physiologische Sicht, die den Sinnesprozess als beseelt und das Sinneserlebnis als Tatbestand einer objektiv zugänglichen Außenwelt versteht.
- Sinneslehre und soziale Perzeption. Für eine personen-zentrierte Medizin ist die Fähigkeit einer empathischen Kommunikation zwischen Ärzten-, Pflegenden-, Therapeuten und Patienten wichtig besonders, wenn Patienten nicht nur als Körper, sondern auch als Personen wahrgenommen werden wollen. Die Frage nach der objektiven Zugänglichkeit von personalen Aspekten des Menschen ist deswegen von besonderer Bedeutung für die Sinneslehre. Die Seniorprofessur untersucht hier die philosophischen und neurobiologischen Grundlagen der 1917 erstmals von Rudolf Steiner beschriebenen höheren Sinnesfähigkeit des Menschen, die über das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten hinaus die spezifisch menschliche soziale Kommunikation ermöglicht:
- den Sinn für Worterfassung,
- den Sinn für Gedankenerfassung, und
- den Sinn für das Erleben des Ich des anderen Menschen
Organologie und Leib-Seele-Interaktion des Menschen
- Leben und Kausalität. Traditionell wird die Eigenschaft des Lebens der Organismen als Produkt molekularbiologischer Mechanismen interpretiert, die letztlich von den Genen gesteuert sind. Dieses reduktionistische Lebensverständnis wird jedoch zunehmend in Frage gestellt, indem sich die Regulation des Genoms kausal auch von extragenetischen Faktoren abhängig erweist und sämtliche molekularbiologische Prozesse letztlich vom holistisch organisierten „System“ des Organismus aktiv und damit kausal bestimmt werden. Dem System, dessen Wirken integral als „Leben“ erscheint, kann deswegen eine kausale Funktion zugeschrieben werden, die nicht mehr aus seinen Teilen stammt, sondern diesen gegenüber eine eigenständige, emergente Gesetzmäßigkeit und Wirksamkeit entfaltet. Die Seniorprofessur erarbeitet Beiträge zu einem so verstandenen systemischen Kausalitätsverständnis des Lebens, die zudem eine Verständnisbrücke zu komplementärmedizinischen Konzepten von Leben und Kausalität bilden können.
- Die Milz als rhythmisches Regulationsorgan des Digestionstrakts. Die Milz entwickelt sich phylogenetisch und ontogenetisch im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gastrointestinaltrakt und galt in der alten Medizin auch als ein Verdauungsorgan. In der modernen Medizin stehen aber die hämatologischen und immunologischen Funktionen der Milz im Vordergrund. Über diese hinaus hat Rudolf Steiner 1911 erstmals eine rhythmische Regulationsfunktion der Milz bei der Nahrungsaufnahme postuliert. Diese Hypothese wird in der Seniorprofessur auf dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Evidenz sowie experimentell überprüft.
- Emotionen und rhythmisches System. Die wissenschaftliche Diskussion des Leib-Seele-Problems hat sich traditionellerweise vor allem auf den Bezug des Seelischen zum Gehirn fokussiert. Dabei wurden sämtliche Seelenfunktionen, d.h. Denken, Fühlen und Wollen, dem Gehirn zugeordnet, und der übrige Leib als Zulieferungsinstanz von Signalen zum Gehirn sowie als Ausführungsorganisation von Anweisungen aus dem Gehirn interpretiert. Tatsachen wie der Zusammenhang von Emotionen mit Hormonen und vegetativen Prozessen im Körper sowie die heutige experimentelle Untermauerung der sog. „Embodiment“-Theorie zeigen aber, dass das Seelisch-Geistige außer dem Gehirn auch mit dem übrigen Organismus verbunden sein muss. Rudolf Steiner hat diesbezüglich schon 1917 das Konzept einer physiologischen Dreigliederung der menschlichen Organismus vorgestellt, in dem nur das Wahrnehmen und Denken dem Nerven-Sinnes-System und damit dem Gehirn zugeordnet wird, das Fühlen jedoch den rhythmischen Funktionen von Atmung und Kreislauf und das Wollen den metabolischen Funktionen des Stoffwechsel-Gliedmassen-Systems. Diese Konzeption wird in der Seniorprofessur anhand des empirischen Tatsachenmaterials zunächst an der Frage des Zusammenhangs von Emotionen und rhythmischen System überprüft.
- Stressempfinden und epigenetische Regulation. Seelischer Stress trägt ursächlich viel zum Entstehen und Unterhalten einer ganzen Reihe von versorgungsrelevanten Erkrankungen bei. Aus einer integrativmedizinischen Perspektive befasst sich die Seniorprofessur mit der gleichzeitigen Wirkung von Stress auf verschiedene Seins-Ebenen des Menschen: seelisches Empfinden, Herzkreislauf, Biochemie und epigenetische Regulation. In einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit Forschern des Instituts für Integrative Medizin und der Abteilung für Funktionelle Genomik des Lehrstuhls für Biochemie und Molekulare Medizin der Universität Witten/Herdecke untersucht die Seniorprofessur für Medizinische Anthropologie erstmals die Wirkung von Stress im beschriebenen ganzheitlichen Ansatz auf mikroRNA im Speichel. Dem soll die Untersuchung der Stress-mindernden Wirkung von meditativen Verfahren der Komplementärmedizin auf psychologische, physiologische, biochemische und epigenetische Parameter, die gleichzeitig erhoben werden, folgen.
Beiträge der anthroposophischen Medizin zur medizinischen Anthropologie
- Kommentierte Edition des medizinischen Schrift- und Vortragswerks Rudolf Steiners. Dieses Editionsprojekt ist ein Kooperationsprojekt der Seniorprofessur für Medizinische Anthropologie der Universität Witten/Herdecke mit dem Ita Wegman Institut für Anthroposophische Grundlagenforschung in Arlesheim, Schweiz, der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung sowie der Medizinischen Sektion am Goetheanum in Dornach, Schweiz. Beginnend mit dem Vortragszyklus „Geisteswissenschaft und Medizin“ (GA 312) wird das medizinische Schrifttum Rudolf Steiners in der Rudolf Steiner Gesamtausgabe neu editiert, mit ergänzenden Materialien versehen und durch Kommentarbände zum historischen und wissenschaftlichen Kontext von Steiners anthroposophisch-medizinischen Konzepten ergänzt. Dadurch sollen diese Konzepte in den medizinisch-anthropologischen Zusammenhang der heutigen Medizin gesetzt werden können.