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Nachricht vom 06.12.2023
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Lancet-Commission-Report widmet sich der Frage, warum die NS-Zeit in der medizinischen Ausbildung betrachtet werden sollte

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Mit dem Modellcurriculum zur Ärztlichen Bewusstseinsbildung und Ethik am Beispiel der Medizin im Nationalsozialismus ist eine Exkursionen zu Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager und Tötungsanstalten verbunden, inklusive intensiver Vor- und Nachbereitung. (Symbolfoto: pixabay | RonPorter)

Lancet-Commission-Report widmet sich der Frage, warum die NS-Zeit in der medizinischen Ausbildung betrachtet werden sollte

Die Kommission „Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust“ der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet“ fasst verschiedene Beiträge zu dem Thema zusammen – darunter ein Modellcurriculum der UW/H.

Wie kann der moralische Kompass von Mediziner:innen geschärft werden? Wie können Dozierende die professionelle Identitätsentwicklung von Medizinstudierenden fördern, damit sie reflektiert und – wenn nötig – widerständig handeln? Und warum ist es wichtig, sich dafür in der medizinischen Ausbildung mit dem Holocaust und den Verbrechen des Nationalsozialismus zu beschäftigen? Antworten auf diese Fragen bietet ein Modellcurriculum der Universität Witten/Herdecke (UW/H), das nun in das Kompendium der Kommission „Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust: historische Evidenz, Implikationen für die Gegenwart, Ausbildung der Zukunft“ der renommierten medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ eingeflossen ist.

In der NS-Zeit wurden Millionen Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, zahlreiche weitere Bevölkerungsgruppen und politische Gegner:innen aus ideologischen Gründen systematisch verfolgt, für Zwangsarbeit und Experimente missbraucht und brutal ermordet. Insbesondere Tätige in Gesundheitsberufen ermöglichten den industrialisierten Massenmord. Die Auseinandersetzung mit diesen Verbrechen hat nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend zur Entstehung der heutigen Berufsethik im Gesundheitswesen beigetragen. Die Geschichte zu reflektieren und daraus zu lernen, ist nicht nur für praktizierende Mediziner:innen, sondern auch für Studierende bedeutsam; dennoch wird das Thema in der medizinischen Ausbildung kaum behandelt.

Reflektieren der eigenen Rolle als Mediziner:in

Die Kommission hat daher wissenschaftliche Beiträge zusammengefasst, die die Bedeutung der Geschichte und ihrer Reflexion unterstreichen; auf Basis bestehender medizinischer Lehrpläne spricht sie außerdem konkrete Empfehlungen für die Ausbildung aus. „Das Entscheidende ist, dass sich unser Bericht nicht nur auf die Geschichte bezieht“, sagt Dr. Hedy Wald, Mitglied der Lancet-Kommission. „Natürlich ordnen wir die Geschehnisse historisch ein, gehen aber noch einen Schritt weiter: Wir wollen eine sogenannte ‚geschichtsinformierte berufliche Identitätsbildung‘ ermöglichen. Denn die Identitätsentwicklung von Mediziner:innen sollte die Vergangenheit nicht außer Acht lassen: Angesichts von Kriegen und Terror überall auf der Welt und der ethischen Komplexität in der Medizin ist die Reflexion unserer Arbeit und unserer gesellschaftlichen Rolle in der heutigen Zeit wichtiger denn je. Hier ist die Universität Witten/Herdecke Vorreiterin in der Ausbildung.“

So beschäftigen sich der Arzt Diethard Tauschel und das Team des Integrierten Begleitstudiums Anthroposophische Medizin der UW/H in Kooperation mit Prof. Dr. Peter Selg, Ita Wegman Institut (Arlesheim, Schweiz), und dem „WittenLab. Zukunftslabor Studium fundamentale“ der Uni Witten/Herdecke bereits seit 2009 mit dem Thema Ärztliche Bewusstseinsbildung und Ethik am Beispiel der Medizin im Nationalsozialismus. 2019 haben sie ein dreijähriges Modellcurriculum aufgesetzt, das sich dieser Thematik annimmt: mit Exkursionen zu Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager und Tötungsanstalten, inklusive intensiver Vor- und Nachbereitung. In Seminaren, Einzelarbeit, Reflexionsgruppen und vor Ort befassen die Studierenden sich mit der Geschichte der Medizin und der Rolle von Mediziner:innen vor und in der Zeit des Nationalsozialismus.

In Auschwitz geht es z. B. um die schrecklichen Taten von SS-Ärzten, aber auch um die Biographien von Mediziner:innen, die Widerstand geleistet haben. „Sie haben eine Resilienz entwickelt, die die Teilnehmenden tief berührt“, sagt Diethard Tauschel. Dadurch fingen die Studierenden an, über sich selbst und ihren Beruf nachzudenken. Wie können wir humanistische Werte leben und Widerstandskraft gegen Dehumanisierung entwickeln? „Unsere Vision ist es, durch Erfahrungen wie diese einen Unterschied in der medizinischen Ausbildung zu machen: geschichtlich informiert zu sein, die emotionale und moralische Einflussnahme zu verstehen und daraus Erkenntnisse für das eigene Studium und die spätere Arbeit abzuleiten.“ Denn zahlreiche aktuelle Debatten wie die Frage nach dem Beginn und Ende des Lebens könnten von einem Verständnis dieser Geschichte profitieren. 

Geschichte verstehen, um eine bessere Zukunft zu gestalten

„Um den gegenwärtigen Herausforderungen im Gesundheitssystem adäquat begegnen zu können, braucht es mehr als die naturwissenschaftlichen Grundlagen. Es braucht eine reflexive Fähigkeit, die sich neben der Introspektion auch den großen moralischen und politischen Fragen unserer Zeit nähert“, gibt Johanna Iserlohe, Studentin der Humanmedizin und studentische Mitarbeiterin, zu bedenken.
„Wir sind davon überzeugt, dass das Studium der Medizin, des Nationalsozialismus und des Holocaust dazu beitragen kann, dass Studierende sich gegen Antisemitismus, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung wehren; in ihrer beruflichen Rolle, aber auch als Weltbürger:innen“, so Dr. Hedy Wald. „Nur, wenn wir die Geschichte verstehen und darüber nachdenken, können wir eine bessere Zukunft gestalten – ein besseres Gesundheitssystem und eine verständnisvollere Gesellschaft insgesamt.“

Während und nach der Exkursion reflektieren die Studierenden ihre Erfahrungen in schriftlichen Ausarbeitungen – diese Arbeiten sind Teil wissenschaftlicher Forschung über eine werteorientierte Ausbildung. Dr. Wald, Prof. Dr. Claudia Kiessling, Diethard Tauschel und Madelin Riesen haben einige Ergebnisse dazu im GMS Journal for Medical Education veröffentlicht. Prof. Dr. Claudia Kiessling ist Inhaberin des Lehrstuhls für die Ausbildung personaler und interpersonaler Kompetenzen im Gesundheitswesen und setzt sich in dieser Funktion intensiv mit den Reflexionsarbeiten der Studierenden auseinander.

Bislang ist die Teilnahme am Modellcurriculum freiwillig. „Im nächsten Schritt geht es darum, es als Pflichtveranstaltung in die Lehre aufzunehmen und auch den Mitarbeitenden in den kooperierenden Kliniken zugänglich zu machen“, sagt Prof. Dr. Melchior Seyfarth, Mitglied im Rat der Fakultät für Gesundheit der UW/H. „Denn Reflexion und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Beruf und dem System, in dem man arbeitet, sollte nie aufhören.“  

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Weitere Informationen: Weitere Informationen zur Kommission finden Sie auf der Website des Lancet-Journals. Ansprechpartner für die Arbeit am Modellcurriculum ist Diethard Tauschel, +49 2302 / 926-725, Diethard.Tauschel@uni-wh.de

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